Die letzten Zeugen - Das Buc

THEA MARGARETE RUMSTEIN


 
 

THEA MARGARETE
RUMSTEIN

(früher Gottesmann)
geb. 1928-02-06
lebt heute in den USA


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Nina Kompein, Schülerin am  Gymnasium für Sloweninnen und Slowenen Klagenfurt, war im Projekt  »Botschafter der
Erinnerung« im April 2007 zu Gast bei Thea Rumstein in New York und hat ihre Lebensgeschichte dokumentiert. Im Mai 2008 war Thea Rumstein zu Gast an der Wiener Fachschule für wirtschaftliche Berufe Sta. Christiana.

Thea Margarete Rumstein wird 1928 in Wien geboren. Nach dem Anschluss muss das 10-jährige Mädchen den Judenstern tragen und darf nicht mehr zur Schule gehen. 1942 wird sie mit ihren Eltern nach Theresienstadt deportiert. Von dort kommt die Familie ins KZ Auschwitz, wo Theas Vater vergast wird. Gemeinsam mit ihrer Mutter wird Thea ins KZ Mauthausen gebracht, wo sie im Mai 1945
befreit wird.

Wien, Auschwitz, Mauthausen, New York

Thea Rumstein hat Theresienstadt, Auschwitz und Mauthausen überlebt. Ihr Vater wurde vergast, ihr Großvater erschossen.

Thea wurde am 6. Februar 1928 in Wien geboren. Ihre Mutter – ebenfalls gebürtige Wienerin – war Hausfrau, ihr Vater stammte ursprünglich aus Budapest und war Magister der Pharmazie.

Zusammen mit ihren Eltern und ihrem um ein Jahr älteren Bruder Georg wohnte Thea in Gersthof. Der vierköpfigen Familie fehlte es an nichts, sie führte ein sehr schönes Leben.

Doch am 13. März 1938 – Thea war gerade 10 Jahre alt – marschierten Hitlers Nationalsozialisten in Österreich ein. Kurz darauf änderte sich alles für die Familie, denn schon bald wurde sie aus ihrer Wohnung in Gersthof hinausgeworfen und so zogen Thea, ihre Eltern und ihr Bruder in die Heinestraße. Aber auch da konnten sie nicht lange bleiben, denn die Heinestraße ist eine große Straße, auf der es damals ständig Aufmärsche der Nazis gab.

Thea ging dort noch ein Jahr zur Schule, bevor es Kindern jüdischen Glaubens 1939 verboten wurde, »normale« Schulen zu besuchen. Ab nun besuchte Thea eine so genannte »Judenschule« in der Vorgartenstraße nahe der Reichsbrücke.

In Wien war es zu dieser Zeit furchtbar. Thea und ihre jüdischen Mitschüler wurden von den anderen Kindern angespuckt und ihr wurde oft die Kappe vom Kopf gerissen. So konnten sie bald nirgends mehr hingehen.

Ab 1940 mussten Juden den gelben, sechszackigen »Judenstern« tragen, und es wurde ihnen generell verboten zur Schule zu gehen. Zur gleichen Zeit kam der Erlass, dass jede jüdische Frau zusätzlich zu ihrem eigenem Vor-namen den Namen Sarah und jeder jüdische Mann den Namen Israel annehmen musste.

Im Winter wurden sie, ihr Bruder, ihr Vater, ihre Mutter und andere jüdische Leute, die dort wohnten, oft aus der Wohnung »herausgezogen«, um Schnee zu schaufeln. Im Winter wollten die Nazis Thea sogar ihre Stiefel herunterreißen, doch zum Glück taten sie es doch nicht. »Die Leute sind – waren wie Pöbel, die Menschen. Man – wenn ich sage, man kann sich das nicht vorstellen, dass Menschen – vielleicht war das, weil sie im 2. Bezirk waren und es, … aber: Es war überall so …« tut sich Thea schwer, ihre Erinnerungen daran in Worte zu fassen.

Bald darauf musste sie mit ihrer Familie aus der Heinestraße ausziehen. Von nun an lebten sie in einer Sammelwohnung in der Große Stadtgutgasse. Dort wohnten, wie es der Zufall so will, zwei Professoren – auch jüdische Männer. Die Wohnung, bestehend aus fünf Zimmern, einer Küche und einem Badezimmer, war relativ groß. Thea und ihre Familie bekamen ein Zimmer und ein Kabinett, wobei sie und ihr Bruder im Kabinett schliefen und ihre Eltern sich das Zimmer teilten.

In einem anderen Zimmer lebte ein Ehepaar, das mit Nachnamen Kornitzer hieß. Professor Kornitzer war zu der Zeit in Wien sehr bekannt. Die zwei Professoren gaben Thea nun regelmäßig Schulaufgaben, wodurch sie einiges lernte. Das bedeutete großes Glück für sie, denn zur Schule durfte sie ja nicht mehr gehen. Nach dem Krieg wunderte sie sich über ihre guten Deutschkenntnisse, die sie wahrscheinlich den beiden zu verdanken hatte.

1941 hätten Thea und ihr Bruder Georg mit dem Kindertransport nach England flüchten sollen, doch noch hatten sie nicht alle dafür nötigen
Papiere. Außerdem hatten die Eltern beschlossen: »Was immer uns passiert, wir werden es zusammen erleben.«

Damals hatte sie nicht ahnen können, was ihnen noch zustoßen würde.

Noch im selben Jahr wurden sie »ausgehoben«. Die Nazis kamen mit einem großen Lastwagen und befahlen der Familie, innerhalb von zwei Stunden die Koffer zu packen, um dann wegfahren zu können.

Zu der Zeit hatten auch Theas Großvater und Großmutter schon die Vorladung für das Sammellager in der Sperlschule erhalten. Heutzutage ist es eine ganz normale Schule in der Sperlgasse in Wien, doch damals hatte diese Schule die Funktion eines Auffanglagers. Die Leute wurden in diesem Lager zusammengepfercht, geschlafen wurde am Boden. Von dort aus wurde man dann nach Polen – jedoch noch nicht nach Theresienstadt – geschickt.

Der Großvater hatte jedenfalls schon die Vorladung in die Sperlschule und meldete sich freiwillig, denn Thea, Georg und ihre Eltern waren schon drinnen und er dachte, wohin sie auch gebracht würden, »wir gehen alle zusammen.«   

Theas Vater kannte aber ein paar Männer, deren Aufgabe es war, das Gepäck der Leute, welche »ausgehoben« worden waren, von den Lastwagen in die Sperlschule zu tragen. Diese Männer, die auch Juden waren und teilweise zur Kultusgemeinde in Wien gehörten, packten nun Theas Vater, er hieß Djula (Julius), Koffer auf die Schultern und meinten, er wäre ein guter Mann, den man gebrauchen könnte.
Der SS-Mann, der dort stand, meinte: »No ja, dann lassn`s ihn hier arbeiten.« Jemand sagte dann, dass er Familie – Frau und zwei Kinder – hier hätte. Darauf der SS-Mann: »Ja, die schicken`s wieder nach Haus.« Und tatsächlich hatte man Thea und ihre Familie aus der Sperlschule entlassen.

Ihre Großeltern wurden jedoch nach Litzmannstadt (Łodz) deportiert, wo der Großvater sofort ermordet wurde. Thea weiß heute von anderen Leuten, dass er einfach in eine Grube geschossen wurde.

Thea, Georg und ihre Eltern verbrachten also noch ein furchtbares Jahr in Wien in der Große Stadtgutgasse, aber solange der Vater als Kofferträger arbeitete, waren sie zumindest ein wenig geschützt. Die anderen Leute, die dort wohnten, waren deportiert worden, doch Professor Kornitzer war mit einer Nichtjüdin verheiratet und so gab er Thea weiterhin Unterricht.

Die meiste Zeit saß sie jedoch am Fenster. Die Große Stadtgutgasse führt direkt zum Prater, und so beobachtete sie – vor allem sonntags – die Leute, die dort spazieren gingen. Thea beneidete sie so sehr, denn sie war noch ein Kind, durfte aber nicht aus der Wohnung. Mit dem Judenstern war das (fast) undenkbar. Im Jahr 1942 fingen die Transporte nach Theresienstadt an. Dadurch, dass Theas Vater immer noch in der Sperlschule arbeitete, waren sie einigermaßen privilegiert, nach Theresienstadt zu kommen, denn die Verhältnisse dort waren um einiges besser als in anderen Lagern. Die meisten Menschen, die in dieses Durchgangslager (es wird in manchen Geschichtsbüchern als »Sonderlager« eingestuft) kamen, wurden jedoch weitergeschickt.

Thea und ihre Familie sollten nun zwei Jahre hier verbringen, doch schon kurz nach der Ankunft erlitt der Vater einen Nervenzusammenbruch. Als optimistischer Mensch war er nämlich stets davon überzeugt, dass die Welt nicht zusehen – dass die Welt so etwas nicht zulassen würde. Er meinte, man würde sie befreien. Dass es noch Jahre dauern sollte, dachte er nicht.

»Die Welt macht heute nichts … in Darfur werden die Menschen umgebracht. Die Menschen – die Menschen haben sich absolutely nicht ge-
ändert. Ich glaub, sie sind noch ärger. Obwohl – damals haben sie nicht television gehabt, in der Zeitung hast du nur Schlechtes darüber gelesen, was die Juden machen und die Bolschewiken. Der Bolschewik und die Juden, die waren an allem schuld. An dem Krieg und allem, allem immer – die Amerikaner – die sagen das noch heute. Die Menschen haben sich nicht geändert.«
Damit macht Thea auf Parallelen zwischen der Vergangenheit und der gegenwärtigen Situation in bestimmten Regionen der Welt und die Wiederholung der Geschichte aufmerksam. Auf diese Weise schafft sie es mit einigen wenigen Worten auszudrücken, dass man diese damals verübten Verbrechen keinesfalls vergessen darf, auch wenn manche Beteiligten es aus verständlichen Gründen krampfhaft versuchen.

In Theresienstadt wurden Thea und Georg in ein Kinderheim gebracht. Zwar wurden sie aus ihrem Zuhause gerissen, doch in Theresienstadt wurden ihnen – anders als in Auschwitz oder Mauthausen – nicht die Haare rasiert und sie durften alles, was sie im Koffer mitgebracht hatten, behalten. Thea teilte sich mit etwa 35 Mädchen ein Zimmer und gemeinsam versuchten sie das Beste aus ihrer Situation zu machen. Doch sie bekamen wenig zu essen und so war der Hunger ein permanenter Begleiter. Die meisten Burschen und Mädchen gingen damals in die Landwirtschaft, aber Thea entschied sich für die Schneiderei, um vielleicht nach dem Krieg einen Beruf zu haben. Noch heute scheint sie glücklich über ihre Entscheidung zu sein, denn immer noch hilft ihr das damals Gelernte im Alltag.

Eine gute Erinnerung hat sie noch an die damalige Zeit. Mit Gleichaltrigen – acht Burschen und vier Mädchen – gründete sie eine Verbindung. Freitags trafen sie sich regelmäßig und brachten Brot, Zucker und Margarine mit, woraus sie sich dann eine Brottorte machten. Zusammen lernten sie auch Hebräisch, was stark zur Harmonie innerhalb der Gruppe beitrug.Die älteren Mitglieder ihrer Verbindung, die etwa 25 Jahre alt gewesen sind, waren bereits in Wien Zionisten gewesen und wollten alle schon nach Palästina (Israel gab es damals noch nicht) auswandern. Diese konnten also schon Hebräisch und gaben es an die jüngeren Mitglieder weiter. So lernten sie zunächst das Alphabet und nach und nach auch die Sprache.

Damals sagte Thea ihrer Mutter immer, sie müsste nach dem Krieg noch ein Kind bekommen, denn sie selbst und Georg wollten ebenfalls nach Palästina gehen.

Thea wollte keinesfalls zurück nach Wien, die Stadt, aus der sie rausgeworfen worden waren.

So lebten sie zwei Jahre lang in Theresienstadt. Badezimmer gab es dort natürlich keine. Es gab ein einziges Klo, vor dem sich jedoch immer eine Schlange bildete. Ihre einzige Waschgelegenheit waren drei oder vier Lavoirs, die sich alle 35 Mädchen teilen mussten. Mit einem Lächeln denkt Thea heute daran zurück, wie sie sich immer als Erste meldete: »Ich bin die Erste!« Von Brausebädern konnte man damals nur träumen, doch immer noch waren sie alle zusammen und voll Hoffnung.

Eines Tages im Jahr 1944 erhielten alle in Theresienstadt den Befehl, sich in Hundertschaften aufzustellen. Es hieß, man würde sie alle erschießen. Der Grund dafür war der missglückte Mordversuch an Hitler, doch das wussten sie damals natürlich nicht. Vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein warteten sie – immer noch in Hundertschaften aufgestellt. Sie durften nicht einmal auf die Toilette und so mussten sie ihre Notdurft an Ort und Stelle verrichten.

In der Nacht kam dann die Nachricht (wahrscheinlich aus Berlin), dass alle 60.000, 70.000 Gefangenen wieder zurück ins Lager gehen mussten.

Ein paar Monate nach diesem Mordversuch an Hitler wurden Transporte organisiert. Schon seit Thea mit ihrer Familie nach Theresienstadt ge-
kommen war, wurden regelmäßig Gefangene in Vernichtungslager, etwa nach Bergen-Belsen, deportiert. Den Gefangenen wurde selbstverständlich keine Auskunft darüber erteilt. Es hieß stets, sie würden bloß in andere Lager, Arbeitslager, gebracht. Dort würden nämlich neue Arbeiter gebraucht.

Niemand wusste, wohin man sie wirklich brachte.

Theas Vater und Bruder waren schon im ersten Transport nach dem Mordversuch an Hitler. Am Tag danach hieß es dann, die Frauen könnten sich freiwillig melden, um ihren Männern zu folgen. Thea und ihre Mutter meldeten sich sofort. Sie wären so oder so drangekommen, denn alle wurden früher oder später deportiert.

Sie waren also im so genannten »Zweiten Männertransport«. Drei Tage waren sie unterwegs, ohne zu wissen, wo der Zielort war. Sie fuhren und fuhren und auf einmal sahen sie das Schild: Oswiecim (Auschwitz).

Nun wussten sie, wo sie waren – und sie wussten, es bedeutete etwas Schreckliches. Sie hatten vorher schon von Auschwitz gehört, doch sie wussten nicht, was dort passierte. Der Zug hielt direkt vor der Aufschrift  »Arbeit macht frei«. Sie mussten raus aus den Waggons, sich in Reihen aufstellen. Ein einziges Gefühl beherrschte alle: unbeschreibliche Angst. Und da waren Dr. Mengele und noch zwei oder drei SS-Männer, die meinten, es sei ein langer Weg ins Lager. Wer sich müde, krank oder schwach fühlte, wer Kinder hatte und älter sei, könne mit dem Lastwagen ins Lager geführt werden.

Bei der »Ausmistung« (Selektion) durch Dr. Mengele und einen anderen SS-Mann wurde Theas Mutter dann gefragt, ob sie krank sei. Und sie, müde von den Strapazen der letzten drei Tage, sagte in der Hoffnung mit dem Lastwagen fahren zu können: »Ich bin nicht krank, ich bin verkühlt.« Dann musterte Mengele Thea, deutete ihr mit einer Handbewegung, weiter zu gehen und sagte: »Diese Seite.« Es war nicht die Seite, auf die ihre Mutter geschickt wurde. Hinter den SS-Männern packte Thea die Hand ihrer Mutter und dachte sich: »Ich geh nicht dahin, wo die alten Leute sind.« Die jungen, arbeitsfähigen Leute wurden nämlich alle auf die gleiche Seite geschickt wie sie selbst. Und so rettete Thea, ohne es zu wissen, ihrer Mutter das Leben. Denn diese war schon auf der Seite gewesen, von wo aus die Menschen direkt in die Gaskammer geführt wurden.

»So dann – Auschwitz war die Hölle, die Hölle auf Erden«, denkt Thea an diese Zeit zurück. Es war im Oktober und in Auschwitz (gelegen in Oberschlesien) »regnet es so wie in Russland. Es regnet, es schneit, es … Wasser, überall Wasser…« Gras wuchs dort keines. Am Boden war nur Dreck, in den man einsank. Nun kamen sie in große Baracken, die vorher anscheinend Pferdeställe gewesen waren. Drinnen befanden sich bloß Stockbetten – ohne Matratzen, ohne Decken.

Doch vorher brachte man sie noch in einen großen Raum, wo sie alles, das ihnen gehörte, auf den Boden legen mussten. Schmuck, Gold, Silber – alles was sie hatten, mussten sie auf den Boden schmeißen. Dann wurden ihnen alle Haare abrasiert. So saßen sie dort, mit Glatzen. Sie erkannten sich kaum noch.

Komplett nackt standen sie nun vor einem großen Kleiderhaufen - Gewand, das anderen, die vergast wurden, abgenommen worden ist. Thea schnappte sich ein Kleid, einen Mantel und ein Paar Männerschuhe. Die waren zwar verschieden, aber zum Schnüren und um diese beneideten sie dann später alle. Sie konnte nämlich Papier hineinstopfen, um sich wenigstens ein wenig vor der eisigen Kälte zu schützen.
Inzwischen waren wieder die SS-Männer gekommen und es gab eine neuerliche Selektion, bei der sie sich wieder nackt ausziehen mussten.
Impetigo (eine Hautkrankheit), ein einziges Wimmerl, oder was immer die SS-Männer störte, konnte ein Grund dafür sein, unverzüglich in die Gaskammer geschickt zu werden.

Zu dem Zeitpunkt wussten sie aber noch nicht, dass diese Menschen in die Gaskammer geschickt wurden. Sie wunderten sich, wo die selektierten Leute wohl sein mögen und fragten später immer die dortigen Wärter, die Kapos. Diese waren meistens Polen, selbst Juden. Und sie zeigten bloß auf große rauchende Kamine.

Spätestens jetzt realisierten Thea und die Mitgefangenen rings um sie, dass sie sich in einem reinen Vernichtungslager befanden.
Die Aufseher waren vorwiegend Frauen in grauen SS-Uniformen. Jede hatte einen Hund, meist einen Wolfs- oder Schäferhund und eine Peitsche. Daran kann sich Thea noch sehr gut erinnern.

Thea und die anderen Häftlinge taten dort nichts. Sie wurden immer von neuem selektiert, oder auf den Zählappell gerufen, wo sie sich auf-
stellen mussten und sie wurden gezählt und wieder gezählt … Viele brachen während dieser Appelle zusammen und wurden deshalb von den Kapos mit eiskaltem Wasser begossen. Sie taten es nicht, um die Gefangenen noch mehr zu quälen, sondern um ihnen ihr Leben zu retten, denn dadurch kamen die meisten wieder zu Bewusstsein und standen auf. Andernfalls hätte man sie sofort weggeschafft.

Nach etwa drei Wochen wurden dann ungefähr 1000 Frauen – unter ihnen Thea und ihre Mutter – auf Viehwaggons getrieben. Und wieder befanden sie sich auf einer Fahrt ins Ungewisse. Sie fuhren und fuhren und fuhren – bis sie schließlich in Freiberg in Sachsen, einem Nebenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg, landeten.

Dort arbeiteten sie in einer ehemaligen Porzellanfabrik, die zu einer Flugzeugfabrik umfunktioniert worden war. Es war eine der im 3. Reich sehr bekannten »Messerschmitt« Fabriken, die für die Nazis Tragflächen für Flugzeuge herstellten.

Anfangs schliefen sie in Stockbetten in der Fabrik, in denen es von Ungeziefer nur so wimmelte, bis später Baracken gebaut wurden.
Der »Arbeitstag« in der Fabrik dauerte etwa 14 bis 16 Stunden. Zu essen  bekamen sie in der Früh eine schwarze Flüssigkeit, die Kaffee genannt wurde, und eine Scheibe Brot. Das musste für den ganzen Tag ausreichen, denn erst am Abend gab es dann einen Schöpflöffel Rübensuppe.

Theas Aufgabe in der Fabrik war es, am Fließband Nägel in irgendwelche Tragflächenteile zu hämmern. Ein Aufseher kontrollierte die Arbeit der Gefangenen.                         

Es war Winter. Die Gefangenen besaßen weder Unterwäsche noch Strümpfe, Thea hatte bloß ihr Kleid und ihren Mantel. Aufgrund des Schocks, den die Frauen und Mädchen dort erlitten, blieb bei vielen die Menstruation aus. Es war eiskalt und furchtbar. Sie mussten jeden Morgen um 4.30 Uhr aufstehen und ihre Baracken verlassen. Dem folgte ein einstündiger Marsch, doch trotz der Kälte, des Schnees und der mangelhaften Bekleidung bekamen die wenigsten eine Verkühlung. Das ist durchaus interessant, aber damals wunderten sie sich nicht darüber. Sie dachten nicht darüber nach. Sie dachten gar nichts. Sie ließen sich einfach treiben, wie Vieh – wie Schafe, die man grasen lässt.
Die meisten Frauen waren Hausfrauen und unterhielten sich übers Kochen, tauschten Erfahrungen über Rezepte aus. Thea war damals 16 Jahre alt und diese Gespräche regten sie auf, nicht zuletzt, weil sie ohnehin immer hungrig war.

In der Fabrik hatte sich Thea einmal eine Schürfwunde zugezogen. Durch ein Öl, das  dort verwendet wurde, bekam sie eine Blutvergiftung. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war ihre Hand zweimal so dick wie normal. Das versetzte sie in Angst, denn es gab weder eine Krankenstube, noch hatte sie einen Verband. Also schlitzte sie sich die Hand selbst auf und presste alles heraus. Wenn Thea heute ihre Hand ansieht, denkt sie daran zurück wie an ein Wunder. Flüssigkeit rann aus der Wunde und mit etwas Papier gelang es ihr, eine Art Verband dafür zu machen.

Erschüttert denkt sie an die Weihnachtszeit 1944 zurück. Wie üblich marschierten sie von den Baracken in Richtung Fabrik. Die Fenster waren beleuchtet und im Vorbeigehen hörte Thea Musik. Es war das Fest des Friedens, doch nicht ein Mensch, nicht eine Seele gab ihnen ein Stück Brot oder ließ ihnen etwas zukommen. Thea sah die Weihnachtsbäume und die Leute, die feierten. Sie war ihnen neidig, in einem solchen Frieden leben zu können. Damals hatte es noch keine Bombenangriffe gegeben.

Die meisten Leute in ihrer Umgebung waren jung, etwa zwischen 20 und 30 Jahre alt. Es gab nur wenige ältere Leute. Die Älteren wurden meist unverzüglich getötet.

Am 15. 02. 1945 gab es einen großen Luftangriff auf Dresden, bei dem Tausende von Menschen ihr Leben verloren. Die Engländer bombardierten die Stadt flächendeckend.

Für Thea und die anderen Gefangenen gab es keine Luftschutzkeller. Sie wurden alle vor die Fabrik geschickt, wo sie völlig schutzlos im Schnee saßen und den roten Himmel anschauten. Die Bomben fielen vom Himmel, Thea saß zitternd neben ihrer Mutter und fragte verzweifelt was wäre, wenn sie nur verletzt würden, wenn sie nicht gleich getötet werden würden. Dann würden sie wieder zurück nach Auschwitz gebracht werden. Sie hatte große Angst.

Etwa 35 000 Menschen waren bei diesem Angriff ums Leben gekommen. Es war Krieg …

Die Russen kamen immer näher und befreiten Sachsen. Thea und die anderen Gefangenen wurden nun auf offene Viehwaggons gepfercht und herumgeführt. Sie sahen unzählige Kampfflieger und hörten Menschen schreien. Viele wurden wahrscheinlich aus den Waggons geholt und dort erschossen.

Es war wieder eine Odyssee ins Unbekannte. Sie fuhren durch Pilsen und überlegten, wo sie wohl hingebracht werden würden. Sie hofften, dass ihr Zielort Theresienstadt sein würde. Sie waren alle ausgehungert, denn sie hatten während der Fahrt nichts zu essen bekommen. Von Zeit zu Zeit blieb der Zug stehen. Auf den Bäumen wuchsen schon Blüten, die sie aßen, und sie tranken Wasser aus Bächen. Nach zwei Wochen erkannten sie schließlich, wohin sie wirklich gebracht wurden: Mauthausen.

Die wenigsten von ihnen waren Österreicherinnen, die meisten Frauen waren Slowakinnen. Doch für Thea und ihre Mutter war es eine gewisse Ironie, dass sie zuerst aus dem Land, in dem sie geboren worden sind, vertrieben wurden, und nun in eben diesem Land in ein KZ gesperrt wurden.

Die Frauen und Männer, die bei ihrer Ankunft dort standen, sahen sie an und meinten: »Noja, ihr Judenweiber, … hier werdet ihr eure ewige Ruhe finden. Da kummt kana raus!«

Dabei darf man nicht vergessen, dass es schon Ende März, Anfang April 1945 war.

Allein der Aufstieg beim Eingang und das Treppensteigen waren schon eine Tortur. Als sie oben im Lager ankamen, brachen sie alle zusammen.

Später sahen sie dann das Schild mit der Aufschrift »Brausebad« und als Thea dieses erblickte, fing sie an zu weinen, denn sie dachte, sie würden alle vergast werden. Da wussten sie nämlich schon über Mauthausen Bescheid und sie wussten auch, was »Brausebad« bedeuten konnte. Hoffnung hatten sie damals keine mehr.

Nach dem Krieg fragten dann die Leute oft, wieso sie denn nicht zurück geschlagen hätten. Diese Frage hat Thea immer schon gestört, denn womit hätten sie sich wehren sollen? Man wurde bereits erschossen, wenn man bloß den Mund aufmachte. Thea und die anderen Gefangenen standen also dort, da kam ein Mann in gelber Uniform (kein SS-Mann) zu ihr und wollte wissen, wieso sie weinte. Sie antwortete, dass sie doch vergast werden würden, doch er erklärte ihr, dass dies nun nicht mehr geschah.

Weiters fragte er sie, woher sie kam und ob sie allein dort wäre. Er war ein Soldat des Afrika-Korps und man hatte ihn als Aufseher nach Maut-
hausen geschickt. Er wusste schon damals, dass es zu Ende ging, doch die Gefangenen wussten es nicht. Sie hatten weder Radio, noch Zeitung, noch hatte ihnen irgendwer etwas gesagt. Das einzige, was sie wussten, war, dass sie in Mauthausen waren.

Der Aufseher fragte sie also, ob sie allein dort wäre und sie sagte ihm, dass auch ihre Mutter bei ihr war. Er deutete ihr zu warten und als er zurückkam, hatte er für Thea und ihre Mutter jeweils ein Stück Brot mitgebracht. Er erzählte ihr, dass er aus München sei, eine Frau und sechs Kinder gehabt hatte, die aber alle bei einem Angriff getötet wurden. Nach diesem Gespräch hatte sie ihn nie wieder gesehen.

Sie gingen nun die Todesstiege hinunter und wurden ins »Zigeunerlager« gebracht. Dort lagen sie und taten nichts. Sie hörten Schüsse und
Kanonen, doch sie wagten nicht zu denken, dass der Krieg zu Ende ging. Sie bekamen alle 14 Tage einmal etwas zu essen. Aus großen Fässern wurden Gurken ausgeteilt. Sonst lagen sie nur. Eines Tages kam jemand von außen ins Lager und erzählte, er habe Amerikaner in Jeeps gesehen. Doch von Euphorie oder ähnlichen positiven Gefühlen merkte man nichts. Niemand freute sich. Eigentlich empfanden sie gar keine Gefühle, waren komplett gefühllos und blieben liegen.Da kam noch einmal der Münchner Aufseher zu Theas Mutter, fragte sie nach ihrem Namen und verschwand. Uniform trug er zu diesem Zeitpunkt keine mehr.

Inzwischen war Theas Mutter furchtbar krank geworden, hatte angeschwollene Beine. Da sah Thea einen Krankenwagen, mit dem ihre Mutter ins Lager hinauf gebracht wurde. Wäre sie unten geblieben, wäre sie wahrscheinlich gestorben.

Gemeinsam mit ihrer Freundin Gerti, die sie schon in Auschwitz wieder getroffen hatte, verbrachte Thea noch zwei Wochen dort. Sie lagen da, denn sie hatten keine Kraft mehr, waren todkrank. Andere Gefangene, Ukrainerinnen, gingen nach der Befreiung öfter aus dem Lager und kamen von den umliegenden Bauernhöfen mit (wahrscheinlich) gestohlenen Hühnern zurück.

Da meinte auch Thea eines Tages, dass sie etwas unternehmen müssten. Thea dachte, dass man ihnen vielleicht etwas geben würde, ihnen helfen würde, wenn sie sagten, sie seien Österreicherinnen. Also gingen Gerti und sie zu einem Bauernhaus,  klopften an die Tür und baten den Besitzer um ein wenig Nahrung. Dieser gab ihnen jedoch jeweils ein Glas Wein.

Plötzlich kamen zwei Österreicher mit Gewehren und betrachteten Thea und Gerti. In Mauthausen hatte man ihnen ihre Kleidung weggenommen und so saßen sie in verlausten Männerunterhosen und Hemden dort. Und da meinten die zwei Österreicher: »No, was machen denn die zwei Judenweiber hier? Heraus, heraus von hier!« Dabei muss man beachten, dass das schon nach dem Krieg war. Thea und Gerti standen auf und liefen weg – sie hatten Glück, dass sie nicht erschossen wurden.

Sie liefen, doch vom Wein bekamen sie furchtbaren Durchfall und mussten fast bei jedem Baum stehen bleiben, bis sie schließlich im
»Zigeunerlager« ankamen. Dort blieben sie – geschwächt vom Durchfall – wieder einfach liegen. Doch dann beschlossen sie, Theas Mutter zu
suchen.

Eines Tages in der Früh – sie konnten kaum gehen, so schwach waren sie – gingen sie die Todesstiege hinauf. Sie mussten auf jeder zweiten Stufe rasten und Thea dachte, sie würde auf dieser Stiege sterben. Stunden später waren sie völlig erschöpft oben angekommen und fingen an, nach Theas Mutter zu rufen. Wieder vergingen einige Stunden, als sie plötzlich die Mutter ganz leise Theas Namen rufen hörten. Thea und Gerti stiegen durchs Fenster ins Zimmer, in dem die Mutter lag und legten sich in ein Bett.

Die Amerikaner waren auch schon da und versorgten sie mit Essen. Im Lager gab es viele so genannte »Mischlinge«, Kinder aus Familien mit einem nichtjüdischen Eltern- oder Großelternteil. Da kam es vor, dass manche Eltern ihre Kinder wegschickten, weil sie meinten, sie seien sowieso nur »Judenkinder«. Denen waren ihre eigenen Kinder egal.

Jedenfalls war da im Lager dieses »Mischlings«-Mädchen Anne-Marie. Sie hatte irgendwo ein Stück Speck bekommen und aß ihn. Plötzlich sah Thea sie am Boden liegen und meinte, sie solle sich doch lieber ins Bett legen. Doch da war sie schon tot. Der Körper war die Nahrung nicht mehr gewöhnt.

Es war schon Ende Mai, Anfang Juni 1945, und obwohl sie schon am 5. Mai befreit worden waren, waren sie zu dem Zeitpunkt immer noch in Mauthausen.  Da meinte Thea, es sei Zeit, nach Wien zurückzukehren. Doch sie hatten nichts außer ihrer verlausten Unterwäsche. Sie bekamen von den Amerikanern drei Tischtücher, die Thea zu drei Blusen und Röcken verarbeitete, um eine anständige Kleidung für die Rückreise nach Wien zu haben. Schneidern hatte sie damals in Theresienstadt gelernt und so war das kein Problem für sie. Über viele Umwege kamen sie dann nach Wien. Auf der Fahrt dorthin wäre Thea beinahe von einem Russen vergewaltigt worden. Sie saßen in einer Bäckerei und aßen, als der Russe – ein hoher Offizier – kam und sie in ein Zimmer führte. Mit  letzter Kraft schaffte sie es, sich loszureißen und wegzurennen. Danach weinte sie.

Da sprach sie ein Mann in Jiddisch an und fragte, wieso sie denn weine. Sie erzählte ihm von dem Vorfall und dieser Pole, der in der russischen Arme diente, meinte, sie solle ihre Mutter holen. Von nun an wurden sie von ihm beschützt. Er suchte ihnen ein Zimmer im russischen Quartier und versprach immer zu helfen, wenn sie nicht in Ruhe gelassen würden.

Ein paar Tage später kamen sie schließlich nach vielen Zwischenstopps am Westbahnhof in Wien an. Alles dort, die ganze Mariahilfer Straße, alle Geschäfte waren zerbombt. Mit der Mutter ging Thea die Straßen entlang und am Schottenring trafen sie einen ehemaligen Bekannten ihres Vaters. Dieser brachte sie dann über eine Brücke und durch die Malzgasse in ein jüdisches Spital. Dort blieb Thea etwa vier Wochen. Sie wog bloß 37 Kilo, doch ihre Haare begannen wieder nachzuwachsen.

Die Mutter blieb jedoch noch lange im Krankenhaus. Sie war komplett entkräftet und sehr krank. Zu dem Zeitpunkt wussten sie noch nicht, wo sie hin sollten. Vor dem Krieg hatten sie aber eine Haushelferin gehabt, die inzwischen Hausmeisterin in der Vereinsgasse geworden war. Diese nahm sie dann bei sich auf.

Später fanden sie heraus, dass Theas Großmutter und die Geschwister ihres Vaters in Budapest noch am Leben waren. Diese wollten, dass die beiden zu ihnen auf Erholung kamen, aber Thea wollte nicht in Ungarn bleiben und so gingen sie wieder zurück nach Wien. Doch sie hatten nichts, sie besaßen gar nichts.

Thea besuchte einen Kurs in der Handelsschule Weiß und lernte dort Stenographie und Maschinenschreiben. Mit Hilfe eines Freundes bekam sie dann einen Job im American Joint Distribution Comittee (AJDC). Statt Geld bekamen sie Care-Pakete und die Mutter fand eine Wohnung in einem Siedlungshaus der Gemeinde im 13. Bezirk, welche ursprünglich Nazis gehört hatte, die geflüchtet waren. Diese Wohnung bedeutete für Thea und ihre Mutter eine Art Neubeginn.

In der Arbeit verdiente Thea Zucker, Mehl, Konserven und ähnliche Sachen, die sie auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Geld war damals nicht viel wert, doch sie konnten sich ein Radio kaufen oder was immer sie eben brauchten. Ein guter Freund ihres Vaters war Zahnarzt. Er kam jede Woche, holte die Sachen ab, für die sie keine Verwendung hatten, verkaufte sie auf dem Schwarzmarkt und brachte ihnen das Geld.
Als Thea eines Tages im Jahr 1946 in der Kultusgemeinde am Schottenring 25 war, kamen zwei amerikanische Soldaten, die nach Thea Gottesmann suchten. Sie wollten, dass sie mit ihnen nach München ging. Sie sagten ihr nicht, worum genau es ging, doch sie war damals 18 Jahre alt und dachte sich, das sei ein Abenteuer, ein Erlebnis.

Das war das erste Mal, dass sie mit einem Flugzeug der »Airforce« flog. In München wurde sie mit einem Jeep abgeholt und nach Dachau gebracht.Dort gab man ihr ein Buch mit Bildern und bat sie nachzusehen, ob sie jemanden kannte. Und plötzlich erkannte sie auf einem der Bilder den Mann, der ihr und ihrer Mutter in Mauthausen das Brot gegeben hatte. Sie erzählte diese Geschichte und war furchtbar nervös. Sie musste vor den Richter, denn wie den Nürnberger-Prozess, gab es auch den Dachauer-Prozess. Nun musste sie die Geschichte niederschreiben und Fragen beantworten.

Sie regte sich sehr auf, denn sie war Zeugin für die Verteidigung. Wie hätte dieser Mann Aufseher werden können, wäre er nicht ein Nazi
gewesen? Er brauchte ein Alibi und Thea musste ihre Aussage machen. Als sie endlich wieder daheim war, las sie dann in der Zeitung, dass 62 Nazis schuldig gesprochen worden und ins Gefängnis in Landsberg gekommen sind. Aber schon bald las sie einen Artikel, in dem berichtet wurde, sie seien alle wieder entlassen worden. Nur diejenigen, die beim Nürnberger-Prozess verurteilt wurden, bekamen härtere Strafen. Doch viele waren nach Südamerika geflohen.

In Wien arbeitete Thea bei AJDC weiter, doch 1947 beschloss sie, ihren Abschluss nachzuholen. Professor Kornitzer, mit dem sie Jahre zuvor die Wohnung geteilt hatten, schrieb ihr ein Empfehlungsschreiben für den Stadtschulrat. Damit ermöglichte er ihr eine so genannte Externisten-Reifeprüfung. Viele von Theas Freunden legten ebenfalls so eine Prüfung ab. Eine ihrer Freundinnen ist Herzspezialistin, eine andere Anwältin …

Damals bekam sie immer öfter Briefe von Jack, ihrem jetzigen Mann.

Ihre Freundin Gerti wanderte 1949 nach Amerika aus. Thea besuchte sie dort und nach drei Jahren in Wien brach sie ihr Studium ab. Sie kehrte nach Amerika zurück und sah nach sechs oder sieben Jahren Jack wieder.

Zum ersten Mal waren sie sich in Wien begegnet, als seine Mutter, die auch das KZ Auschwitz überlebt hatte, noch am Leben war. Diese war nach dem Krieg, im Jahr 1946, wie auch viele andere, die sowohl psychisch als auch physisch zugrunde gingen, gestorben.

Das Alter spielte dabei eine wichtige Rolle, denn Thea war jung und verarbeitete alles viel schneller als etwa ihre Mutter.

In der Leopoldstadt in Wien gab es jedenfalls eine Küche, und eines Tages saß Thea mit ihrer Mutter an einem Tisch, als diese plötzlich überrascht feststellte, dass sie neben Frau Rumstein und ihrem Sohn Jack saßen. Ihre Mutter hatte die beiden schon länger gekannt.
Thea gefiel Jack sofort, sie mochte vor allem seine blauen Augen. Er war damals 24 Jahre alt, sie jedoch war noch sehr kindisch. Trotzdem gingen sie bald gemeinsam aus – ins Kino zum Beispiel. Doch dann wurde seine Mutter sehr krank und sie sahen sich etwa ein Jahr nicht. Jack wollte sowieso nicht in Wien bleiben. 1939 hätte Jack genau wie sein Bruder nach Amerika flüchten sollen. Es war schon alles bereit, sie hatten sogar schon eine Schiffskarte und die Einreisebewilligung. Doch da wurde er im Alter von 17 Jahren deportiert.

Seinen Bruder, der 13 Jahre alt war, ließen sie daheim. Dieser fuhr dann alleine nach Amerika, aber er hat es nie richtig verkraftet.
Jack jedoch war bis Kriegsende in verschiedenen Konzentrationslagern.

Obwohl beide – Thea und Jack – unvorstellbar Schreckliches während des 2. Weltkrieges erlebt hatten, obwohl sie aus ihrer Heimat vertrieben
wurden, kommen sie noch heute gerne nach Österreich zurück, um unter anderem auch ihre Freunde zu besuchen. Sie können und wollen die Vergangenheit zwar nicht vergessen, es ist ihnen aber  wichtig,  keinen Hass im Herzen zu tragen - nichts und niemanden zu hassen.
  
Thea hat mir ihre ganze Geschichte ohne Zögern näher gebracht, doch trotz ihrer offenen Art zu erzählen, meinte sie abschließend, eigentlich nicht gerne über ihre Vergangenheit zu reden. Umso dankbarer bin ich ihr für die Zeit, die ich mit ihr und Jack in ihrem gemütlichen Haus in Long Island verbringen durfte.

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