Die letzten Zeugen - Das Buc

GEORGES MEHR


 
 

GEORGES MEHR

geb. 1925-07-31
lebt heute in Frankreich

Ermordete Verwandte


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Georges Mehr wurde am 31.7.1925 in Wien geboren. 1939 konnte er mit einem Kindertransport in die Niederlande ausreisen. Später flüchtete er nach Frankreich, von wo er 1944 ins KZ Buchenwald deportiert wurde. Danach kam er ins KZ Bergen-Belsen, dort wurde er von der kanadischen Armee befreit.

Meine Mutter wusste, wir werden uns nie mehr sehen...

Schüler und Schülerinnen der BHAK Innsbruck haben die Lebensgeschichte von Georges Mehr recherchiert.

Monsieur Georges Mehr, der heute in Südfrankreich lebt, stellte uns dankenswerterweise seine 48 Seiten umfassende Biographie
zur Verfügung, die er 1973 verfasste und mit folgendem Satz abschloss: „Ich habe diese Zeilen, die mein Leben darstellen, ... ohne
Hass, ohne Hintergedanken geschrieben, so wie ich es erlebt habe, aber in der Hoffnung, dass nie wieder ein Kind von seinen Eltern weggerissen und dass ein so böser Traum niemals mehr erlebt werden muss.“

Georg Mehr wurde am 31. Juli 1925 in Wien geboren. Er wohnte mit seinen Eltern in der Zirkusgasse in der Leopoldstadt, das heißt im
II. Bezirk. Sein Vater besaß einen Friseursalon, der nicht besonders gut lief, er war ein begeisterter Kartenspieler und liebte die Pferderennen. Im Alter von sechs Jahren verlor Georg seinen Vater, der beim Kartenspiel im Café an einem Herzschlag verstarb. Danach verbrachte er viel Zeit in der Buchhandlung seines Großvaters am Schottenring, der allerdings auch bald verschied. Da beide Geschäfte verschuldet waren, wurden sie geschlossen, und Georgs Mutter arbeitete als Garderobefrau im Zirkus Renz. Herr Mehr erinnert sich, dass er damals eine „herrlich schöne Zeit“ verlebte, weil die Artisten auch bei ihnen zu Hause waren. Seine Mutter machte alles, damit
ihm nichts fehlte.

Auf Grund der schwierigen wirtschaftlichen Situation Anfang der 30er-Jahre musste ihn seine Mutter aber kurzfristig in ein Waisenhaus
geben, was damals bei armen Familien gang und gäbe war. Georg erkrankte an Diphtherie, wurde ins Spital gebracht und konnte anschließend zu seiner Mutter zurückkehren, da er von einer bekannten Familie abstammte, die ihren Verwandten nicht in einem Waisenhaus wissen wollte. Seine Mutter konnte mit familiärer Unterstützung sogar das Friseurgeschäft ihres verstorbenen Mannes wieder eröffnen und mit vier Angestellten dort arbeiten. Auch Georg half in seiner Freizeit mit. „Wenn ich keine Lust zum Arbeiten und genügend Geld hatte, wenn kein Geburtstag in der Nähe war und ich auch keinen Familienangehörigen besuchen musste, so spielte ich im Hof unseres Wohnhauses, der sehr groß war. Wir waren sehr viele Kinder zusammen, und es war sehr schön.“

Durch den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich war die schöne Zeit für Georg vorbei. Zwar lief das Friseurgeschäft ausgezeichnet, aber schon seine Konfirmation konnte im Juli 1938 nicht mehr öffentlich durchgeführt werden. Er unternahm mit seiner Mutter eine Autobusreise nach Budapest, um eine Cousine zu besuchen, und dort verbrachten sie zum letzten Mal gemeinsam wunderschöne Ferientage. Der Friseurladen seiner Mutter wurde wie viele andere große Geschäfte sofort von einem Kommissarischen Leiter beschlagnahmt. Ohne Entschädigung und ohne Einspruchsrecht musste Frau Mehr ihr Geschäft verlassen. Nicht einmal das Geld aus der Kassa durfte sie mitnehmen.

Jetzt begannen für Georg und seine Mutter schlimme Zeiten, aber sie wurden auch unterstützt, z. B. von einer Friseurin, die ihnen jede Woche 5 Reichsmark vorbeibrachte, die sie aus der Ladenkassa stahl. Auch andere Nachbarn stecken ihnen immer wieder heimlich
etwas zu. Herr Mehr berichtet in seiner Lebensgeschichte, dass viele Familienangehörige auswanderten, aber oft ihre alten Eltern zurückließen, die dann als Erste deportiert wurden. In der Schule trennte man die jüdischen und die „arischen“ Kinder voneinander. Herr Mehr erinnert sich, dass es nach Schulschluss oft Schlägereien mit der Hitlerjugend gab.

1939 versuchte Frau Mehr für sich und ihren Sohn beim amerikanischen Konsulat eine Einreisegenehmigung in die USA zu erreichen,
aber es fehlte ihnen das notwendige Geld dafür, und somit konnten sie auch keine für ein anderes Land erwerben. Laut Darstellung von
Herrn Mehr hatten sie viele Verwandte im Ausland, die aber bereits für andere Familienmitglieder finanziell eingesprungen waren. Eine Tochter eines befreundeten polnischen Juden, die nach Holland geheiratet hatte, empfahl Georgs Mutter dann, ihren Sohn mit einem
Kindertransport wegzuschicken. Herr Mehr schreibt in seiner Biographie: „In den letzten Tagen zuhause sah ich sehr oft, wie meine Mutter mich anschaute. Heute erst, da ich selbst Vater bin, weiß ich, was diese Blicke bedeuteten. Meine Mutter wusste, wenn ich am 26. März aus der Wohnung gehen werde, werden wir uns nie mehr sehen. Als 13-Jähriger konnte ich das nicht verstehen, vielleicht war es auch besser so.“

Mit 140 Kindern verließ Georg Mehr am 26. März 1939 Wien. Von 1939 bis 1942 war Georg in zehn verschiedenen Lagern in Holland untergebracht. Anfangs hatte er natürlich große Probleme, als 13-Jähriger allein zurechtzukommen. So heißt es in der Biographie: „Dann kamen schwere Minuten für mich, und plötzlich konnte ich nicht mehr und weinte, ich fühlte mich allein und verlassen, das Herz war mir zu schwer, ich wollte sterben. Ich dachte, dies alles sei nur ein böser Traum.“

Aber Georg machte seinen Weg. Ein Freund vermittelte ihm z. B. den Job als „Kartoffelschälerspezialist“ in der Küche. Somit fielen immer gute Stücke für ihn ab, er konnte sich auch etwas Geld dazu verdienen. Georg erhielt auch Besuch von einem Paar, das ihn adoptieren wollte, allerdings konnten nur Kinder unter zehn Jahren adoptiert werden, was ihm aber, im Nachhinein gesehen, wohl das Leben rettete, da diese dann mit ihren Adoptiveltern gemeinsam deportiert wurden. So gelang es ihm, sich laut eigenen Angaben recht gut durchzubringen, da er durch verschiedenste Arbeiten, die er annahm, doch immer wieder etwas Geld auf die Seite brachte und sich auch kleinere Annehmlichkeiten leisten konnte. Über die Jahre hinweg war es möglich, die brieflichen Kontakte nach Wien trotz Zensur mehr oder weniger aufrecht zu halten. Die Verwandten aller Wiener Kinder trafen sich wöchentlich mehrmals. Sie wussten über das Leben ihrer Kinder in Holland Bescheid und konnten ihre Nachrichten besprechen.

Herr Mehr meint rückblickend dazu: „Wie schwer musste es gewesen sein, wie damals die Deportation unserer Eltern in Wien begann
und sie im letzten Moment den Zurückbleibenden ihr letztes Schreiben an uns anvertrauten. Es haben sich wahrscheinlich fürchterliche Szenen damals zuhause abgespielt. Dies auf Papier niederzuschreiben ist unvorstellbar. Um zu fühlen, was so etwas bedeuten könnte, muss man sein eigenes Kind anschauen und sich dann denken, es sei das letzte Mal, dass man es sieht. Und dann glaube ich, ist die Wirklichkeit anders.“

Herr Mehr berichtet über diese Jahre in Holland nur Positives. So wurde er auch von jüdischen und holländischen Familien bzw. Freunden immer wieder eingeladen, da er sich wie die anderen Heiminsassen immer relativ frei bewegen konnte. Ein Schulunterricht in
den Heimen fand für sie allerdings nicht statt. Nach dem Einmarsch der Deutschen mussten sie auf der linken Brustseite einen gelben Stern tragen, auf dem „Jood“ geschrieben stand. Im Juli 1942 riet ein Freund Georg, der damals in einem Heim in Arnheim wohnte, zur
Flucht in den unbesetzten Teil Frankreichs, um von Marseille aus nach Nordafrika in Sicherheit zu gelangen. Durch Fluchthelfer gelang es ihm tatsächlich, unbehelligt nach Belgien und dann nach Frankreich zu kommen. Immer wieder stieß Georg seiner eigenen Aussage nach auf hilfsbereite Menschen, viele von ihnen waren Elsässer, die ihn verpflegten und ihm wichtige Tipps für seine Flucht gaben. Der Grenzübertritt ins unbesetzte Frankreich bereitete Georg auch keine Probleme, und auf Rat eines Bahnbeamten in Loches nahm er einen Bus nach Chateauroux. Er wurde allerdings von zwei Polizisten in Zivil aus dem Bus geholt, da er natürlich als Flüchtling keine
Ausweispapiere vorlegen konnte. Er wurde auf die Polizeiwache gebracht, dort verhört und durchsucht. Er durfte aber am nächsten Tag als freier Mann mit einem offiziellen Passierschein weiter, um sich innerhalb von 48 Stunden in Douadic, einem der größten jüdischen Lager in der freien Zone, zu melden. Einige Flüchtlinge, die er in Loches traf, rieten ihm allerdings davon ab, da er von dort nicht mehr herauskommen könnte.

In diesem Lager wurde Georg freundlich aufgenommen, oft beschenkt und er arbeitete wieder in der Küche. Daneben bekam er hier
Unterricht in Französisch. Mit der Besetzung Vichy-Frankreichs durch die Deutschen musste er seine Flucht fortsetzen. Der Kommandant
einer Résidence Forcé in Chateaunef les Bains riet ihm, dass es für ihn günstig wäre, wenn er in einem Spital als Tuberkulose-Patient aufgenommen werden könnte. In Clermont wurde er von Professor Waitz, einem späteren Freund, untersucht und durfte bis zum 1.Feber 1943 im Spital bleiben, obwohl ihm nichts fehlte. Schließlich bekam er Arbeit im Laboratorium von Professor Charles Sadron und verdiente sogar 1 000 frs. So heißt es in der Biographie: „Ich hatte ein herrlich schönes Leben, viele Freunde, Freundinnen, und ich schlug mich sehr gut durch. Ich erhielt eine Aufenthaltsgenehmigung, um mich an der Universität einschreiben lassen zu können.“

Am 25. November 1943 aber stürmten Luftwaffensoldaten das Laboratorium, Georg und alle anderen wurden von der Gestapo verhört
und mit ca. weiteren 100 Personen eingesperrt. Er deklarierte sich nicht als Jude, sondern gab vor, aus Holland im Rahmen eines Studentenaustausches wegen seiner Lungenkrankheit nach Frankreich gekommen zu sein. Gemeinsam mit anderen putzte er die Kantine der deutschen Soldaten, manchmal mussten sie Gräber für Résistance-Kämpfer ausheben, die dort erschossen wurden ...

Am 3. Jänner 1944 wurde Georg mit einem zweiten Mann mit dem Zug nach Compiègne in ein Lager gebracht, wo sie bis zum 15. Jänner blieben. „Am nächsten Morgen wurden wir vom Militär an die Bahn gebracht und gezählt. Jeweils 100 Männer wurden in einen
Viehwaggon verfrachtet. Jeder von uns bekam ein Brot und eine offene Fleischkonserve. Die Waggons wurden von außen verschlossen,
und nach zwei oder drei Stunden setzte sich unser Konvoi in Bewegung. Wir begannen uns in unserem Waggon einzuteilen, die Hälfte blieb stehen, die anderen konnten sich legen, die Toilette machten wir in eine Ecke. Einige wurden auf der Fahrt verrückt, andere starben ...“, erinnert sich Herr Mehr.

Nach drei Tagen und zwei Nächten kamen sie am 18. Jänner gegen Abend im KZ Buchenwald an, wo sie von der SS mit Hunden empfangen wurden. Anschließend mussten sie nackt an den SS-Männern vorbeigehen, wurden enthaart, desinfiziert und schlussendlich in blauweiß gestreifte Anzüge gesteckt, bevor sie sich auf dem Appellplatz bei Schnee und Kälte aufstellen mussten. In der Biographie heißt es: „Ich habe mich geschüttelt und zusammengerissen und Gott gedankt, um mir in diesem Augenblick die Kraft zu geben, um weiterleben zu können.“ Gemeinsam mit den anderen Häftlingen musste Georg im Steinbruch arbeiten, Gewehre montieren und Esskübel im Schnee schleppen.

Am 1. Feber 1944 überstellte man Georg nach Dora, wo er auch im Revier als Pfleger arbeitete. Auf Grund der Beschuldigung, den
Tod eines Deutschen bei einer Lungenpunktion herbeigeführt zu haben, wurde er strafweise einem Sturmbannführer zum Putzen zugeteilt. Vor anderen behandelte er Georg sehr schlecht, wenn sie alleine waren, siezte er ihn und ließ ihm Brot, Wurst, Käse und auch
Zigaretten zukommen. In Dora musste Georg in verschiedenen Abteilungen bei der Produktion der V1 und V2 mitarbeiten. Gegen April 1945 merkten alle Lagerinsassen, dass es langsam dem Kriegsende zuging. Herr Mehr betont aber in seiner Lebensgeschichte, dass sie jetzt besonders vorsichtig sein mussten, da alle, die man aufhängte, als Saboteure bezeichnet wurden.

Ende April erfolgte der Transport ins dritte Konzentrationslager, nämlich nach Bergen- Belsen, wo Georg mit seinen Kameraden schließlich von der kanadischen Armee befreit wurde. Georg meldete sich freiwillig als Pfleger für das Frauenlager, da dort laut seiner eigenen Aussage „ein sehr schlimmer Typhus“ ausgebrochen war. Als er am vierten Tag dort wieder seinen Dienst antreten wollte, waren schon Sanitäter dort, und der Kommandant teilt ihm mit, dass er noch am selben Tag nach Hause geschickt werde. Georg wäre aber gerne dort geblieben, da er nicht wusste, wohin er sollte. Außerdem hatte er ein nettes Mädchen kennen gelernt, das auch auf sich allein gestellt war.

Über Deutschland kam Georg schließlich nach Eindhoven in Holland, wo er bis Mitte Juni blieb, dann hielt er sich bis Anfang August
in Paris auf. Schließlich wurde er in ein Ferienheim nach Crest geschickt, und 1946 begann Georg in Straßburg wieder bei Professor Sadron zu arbeiten. „Viele meiner Kameraden sah und traf ich wieder, aber alles hatte sich ganz geändert. In der Zwischenzeit erhielt ich auch die Nachricht, dass meine Mutter im Mai 1942 nach Minsk verschleppt worden ist. Ich dachte es mir, wusste es auch, aber habe immer in Gedanken mit meiner Mutter gelebt und lebe auch heute noch weiter. Mein Leben bis zum 10. Dezember 1972 war das von Millionen von Menschen. An diesem Tage ist das in Erfüllung gegangen, worauf ich niemals mehr gehofft hatte. Um 12 Uhr mittags an diesem Tage ist mir eine sehr liebe und schöne Tochter bei bester Gesundheit geboren worden.“ Und damit schließt sich der Kreis. Am Anfang der Biographie berichtet Herr Mehr über seine überaus glückliche Kindheit in Wien, zum Schluss darf er sich 1972 über die Geburt seiner Tochter freuen.

Kein schlechtes Wort, keine einzige negative Äußerung über das Nazi-Regime oder deutsche Offiziere fällt auf den 48 Seiten. Ist Herr Mehr wirklich immer nur auf menschliche Zeitgenossen gestoßen? Wie er selbst in seiner Biographie sagt, dürfte ihm seine positive Weltsicht das Leben gerettet haben. Er hat nie verzweifelt, obwohl er praktisch immer auf sich allein gestellt war, er ist nie in Selbstmitleid zerflossen. Somit konnte er alles ertragen, was ihm als Kind und dann als jungem Mann angetan wurde, ohne daran zu zerbrechen.

Christina Leis, Daniela Wechselberger, Cornelia Lehner, Claudia Gschliesser, Daniel Petschunik, BHAK Innsbruck, 2005

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