Die letzten Zeugen - Das Buc

ERNESTO ALLERHAND


 
 

ERNESTO
ALLERHAND

(früher Ernst Otto Allerhand)
geb. 1923-10-01
lebt heute in Argentinien

Ermordete Verwandte


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Ernesto Allerhand wird 1923 als Ernst Otto in Wien geboren. Sein Vater wird in der »Reichskristallnacht« im November 1938 ins KZ Dachau verschleppt. Die Familie wird aus der Wohnung geschmissen. Nach drei Monaten Haft kommt der Vater frei, kann Schiffskarten und Visa für ein für sie unbekanntes Land – Bolivien – besorgen. Unter schwersten Entbehrungen gelingt es zu überleben. Später wandert Ernesto Allerhand mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Argentinien aus.

Die KMS Oskar-Spielgasse in Wien mit Lehrerin Gabriele Kaplan war im Mai 2008 Gastgeber für Ernesto Allerhand.

Da stand "Juden und Hunde verboten"

Ernesto Allerhand musste nach Bolivien emigrieren. Dabei meinte sein Vater: "Lieber Straßenkehrer in Wien als Millionär in N.Y."

Ernesto Allerhand wurde am 1. Oktober 1923 in Wien geboren. Seine Eltern stammten ebenfalls aus dem alten Österreich. Der Vater, Karl Ludwig Allerhand, stammte aus Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina. Die Mutter, Flora Wagmann, kam aus Lemberg, der Hauptstadt der Provinz Galizien. Als Österreich den 1. Weltkrieg verlor, zogen die Eltern nach Wien, wo sie 1918 heirateten.

Seit Ernestos Geburt lebte die Familie in der Albertgasse 55 in der Josefstadt, dem 8. Wiener Gemeindebezirk.

Die Familie Allerhand gehörte zum Mittelstand. Der Vater war Rechtsanwalt mit einer eigenen Kanzlei. Er verdiente genug, um der Familie etwas bieten zu können. Man konnte sich im Sommer einen Urlaub leisten, ein Mal reichte das Geld sogar, um eine Reise nach Italien zu machen. Trotzdem hatten sie selten Geld, weil sie immer alles ausgaben. Ernesto erzählte dazu: »Meine Eltern haben alles Geld immer ganz ausgegeben. Nicht, weil sie Verschwender waren, sondern weil Wien damals so unwahrscheinlich viel geboten hat.»

Die Eltern waren immer sehr elegant. Sie besuchten Theater, Konzerte, Opern oder Operetten. Man tanzte viel und liebte die Musik. Die Mutter besaß einen Bösendorfer-Flügel, den Ernesto noch heute vor sich sieht. Auch er musste vier Jahre Klavierspielen lernen, obwohl er es eigentlich nicht wollte. Er spielte lieber Fußball.

Ein besonderes Verhältnis hatte Ernesto auch zu seinem Großvater, der seinen einzigen Enkel sehr liebte. Dieser besuchte häufig die Trabrennbahn in der Krieau, wohin er Ernesto meistens mitnahm. Ernesto sagt zu dieser Zeit: »Für uns war Wien die schönste Stadt der Welt.»

Gleich gegenüber dem Wohnhaus befand sich damals eine Volksschule, die Ernesto vier Jahre lang besuchte. Anschließend besuchte er das Realgymnasium in der Albertgasse, das ab 1935 »Robert-Hamerling-Bundesrealgymnasium» hieß. In den Jahresberichten, die sich im Archiv des Gymnasiums befinden, sind die Jahrgänge und die Klassen noch vermerkt, die Ernesto Allerhand damals besuchte. Vom Schuljahr 1933/34 – 1936/37 ging er in die 1A – 4A. Im Schuljahr 1937/38 besuchte er die 5B. Die Jahresberichte zeigen auch, dass die Klassenschülerhöchstzahlen damals über 40 Schüler betrugen.

Ernesto erzählt über sich selbst, er sei kein besonders braves Kind gewesen: »Ich war für ein jüdisches Kind ein ziemlich schlimmer Bub. Ich habe in der zweiten Gymnasialklasse sechs polizeiliche Anzeigen bekommen ... und das Pech gehabt, dass ich alle Polizisten im Bezirk gekannt habe, aber sie mich auch. Ich war sehr schnell, aber sie haben mich gleich gehabt. Ich war so weit, dass ich sie gebeten habe, die Anzeige meinen Eltern zu schicken. Aber sie haben gesagt: ›Bei euch Juden geschieht nix. Ihr werdet immer von euren Eltern beschützt. Du bekommst die Anzeige in die Schule. Da wirst du bestraft!‹«

Er selbst liebte von eh und je den Sport weit mehr als die Schule. Er war Anhänger des damaligen Fußballclubs Vienna. Das größte Stadion war die Hohe Warte. Das Praterstadion wurde gebaut, als er ein Kind war. Dort sah er viele schöne Spiele. Er liebte aber auch die Austria, die im Mitropa-Cupspielte und fast immer gewann. Er erzählte, dass er die Aufstellung des damaligen Wunderteams immer noch aufsagen könne.

Er selbst schrieb in seinem Brief über diese Zeit: »Ich war der einzige Sohn meiner Eltern und darf behaupten, dass ich eine schöne, normale Kindheit verbrachte.«

Dann wurde der Himmel immer dunkler und das Leben der Familie Allerhand durch die drohende Gefahr des Nationalsozialismus und des ständig stärker werdenden Antisemitismus immer schwerer. »Niemand wollte es glauben», schreibt Ernesto in seinem Brief, »aber am 11. März 1938 überfielen deutsche Truppen das Land. Was wir besonders tragisch empfanden, war, dass von einem Tag zum anderen plötzlich alle Österreicher begeisterte Nazis waren. Alle Häuser waren mit dieser scheußlichen Hakenkreuzfahne geschmückt und das Volk jubelte. Und für uns war es aus. Von einem Tag zum anderen wurden wir rechtlos, Freiwild, Ausgesetzte. Man durfte nicht mehr studieren oder arbeiten, im Falle meines Vaters. Man konnte sich nicht einmal mehr auf eine Bank im Park setzen, da stand 'Juden und Hunde verboten'. Mehr als menschenunwürdig!« Auch in der Schule änderte sich vieles. Der Englischlehrer namens Mächle war damals Kommissar der Schule. Die jüdischen Schüler wurden in den Schulhof gerufen, wo ihnen mitgeteilt wurde, dass sie von nun an nur noch Gäste seien und sich entsprechend zu benehmen hätten. Zuerst wurden die jüdischen Schüler in den einzelnen Klassen in die letzten Reihen gesetzt, wobei zwischen ihnen und den anderen Schülern eine Reihe frei bleiben musste. Doch schon bald wurden eigene »Judenklassen« gegründet. Für sie begann der Unterricht 30 Minuten später und auch die Pausen fanden zeitversetzt statt. Für jüdische Schüler gab es sogar eigene Toiletten, damit sie ja nicht mit »arischen« Schülern zusammentrafen.

Und in der Reichskristallnacht vom 9. zum 10. November 1938 wurde alles noch schlimmer. Über 6000 Juden wurden in dieser Nacht verhaftet und zum Großteil in den folgenden Tagen ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Darunter auch Ernestos Vater. »Alle Juden wurden auf der Straße gehetzt und aufgegriffen und in Viehwagen in Konzentrationslager verschleppt. Darunter auch mein Vater. Und in dieser furchtbaren Nacht läutete es um 3 Uhr an unserer Wohnungstür. ›Aufmachen, Gestapo!‹«

Alle Juden des Hauses mussten in eine einzige Wohnung zusammenziehen. Die Familie hatte genau eine Stunde Zeit, um alle Habseligkeiten zwei Stockwerke hinunter zu schleppen. Der 15-jährige Ernesto hatte damals eine Sportoperation hinter sich und konnte kaum gehen, der Großvater war schwer asthmakrank. Anschließend wurde die Wohnung versiegelt. »Mein kranker Großvater, Mutter und ich schleppten Matratzen und Bettzeug und etwas Wäsche zum Anziehen hinunter. In keinem Gruselfilm kann so etwas passieren.« In den nächsten Tagen lief Frau Allerhand zur Gestapo, um zu erfahren, wie sie ihren Mann befreien könnte. Sie musste für alle ein Visum für ein Land besorgen, das bereit war, Juden aufzunehmen. Zudem mussten Schiffkarten bezahlt werden. Dazu schreibt Ernesto: »Hier ist zu bemerken, dass uns kein Land, vor allem nicht die großen Demokratien, haben bzw. damit unser Leben retten wollte. Einzig Bolivien konnte man mit Schmiergeld wählen.« In Rumänien lebten damals zwei Schwestern des Vaters, durch die die Familie die verlangten Papiere erhielt. Trotzdem dauerte es drei Monate, bis Herr Allerhand aus Dachau entlassen wurde. »Als er eines Morgens an unsere Tür läutete – inzwischen durften wir wieder in unserer Wohnung hausen – machte ich ihm nicht auf, denn ich erkannte ihn nicht. Er war vollkommen verschmutzt, der Kopf abrasiert und um rund 20 kg abgemagert«, schrieb uns Ernesto.

In den nächsten Tagen kamen immer wieder Menschen vorbei, die sich bei Ernestos Vater bedankten, dass er sie durch seinen Humor und seinen eigenen starken Lebenswillen am Leben erhalten habe.

Die Familie war nie wirklich religiös. Ernestos Vater erzählte nach der Entlassung aus dem Konzentrationslager dazu folgende Begebenheit: »Er sagte zu seinen Mitgefangenen ›Hiermit will ich ein Gelübde ablegen. Wenn ich mit dem Leben davonkomme, werde ich mein ganzes Leben jeden Samstag in den Tempel gehen und dem lieben Gott dafür danken.‹ Darauf haben sie ihm gesagt: ›Sie irren sich, Doktor. Freitagabend wird gebetet.‹»

Ernestos Eltern hatten die Situation nie richtig ernst genommen. Eine Auswanderung war für sie nie ein Thema. Ernesto schrieb uns in seinem Brief dazu: »Wir waren die größten österreichischen Patrioten. Mein Vater sagte einst, er wäre lieber Straßenkehrer in Wien als Millionär in New York.«

Und trotzdem blieb der Familie nichts anderes übrig, als ihre geliebte Heimat zu verlassen. Sie wurden mit Gewalt gezwungen, das Land zu verlassen, um das nackte Leben zu retten. Ende November 1938 gab es nur noch zwei Zufluchtsorte, die Juden aufnahmen. Das waren Shanghai und Bolivien. Mit Hilfe der Schwestern des Vaters, die in Rumänien lebten, gelang es ein Visum für Bolivien zu bekommen. Bolivien war damals wie die meisten südamerikanischen Länder korrupt.

Am 1. April 1939, also wenige Monate vor Ausbruch des 2. Weltkrieges, bestieg die Familie Allerhand in Hamburg das deutsche Schiff »Patria«.

Mit 10 Mark in der Tasche fuhren sie einer mehr als ungewissen Zukunft entgegen. Auch dass sie sich bis zur Landung in Südamerika auf deutschem Boden befanden, war nicht gerade ein beruhigendes Gefühl. Trotzdem wurden sie von der Besatzung des Schiffes gut behandelt. Über diese Fahrt erzählte uns Ernesto ein Ereignis, über das er noch heute lacht: »Am 20. April, des 'Führers Geburtstag', gab es ein großes Festessen mit Tanz. Und die arischen Kellner gaben den verfolgten Juden ein Bankett. In meiner Erinnerung war diese Schiffsreise schön und angenehm, die Besatzung ließ uns nie merken, dass wir Verfolgte sind.«

Und dann kam die Landung in Arica, einem kleinen chilenischen Hafen. Die Ankunft war ein Schock. Arica war damals nicht einmal ein richtiger Hafen. Das Schiff musste weiter draußen ankern. Dann kamen kleine Kähne, auf die man aufspringen musste, um an Land zu kommen. »Es war ein furchtbarer Kontrast, meine Mutter hat sofort Depressionen bekommen. Wir konnten es da nicht aushalten.« Mit dem Zug ging die Fahrt weiter nach La Paz in Bolivien. Man sagte der Familie, dass nur die Fahrt mit dem Schlafwagen halbwegs erträglich sei, aber der Schlafwagen ging erst in einer Woche wieder. Die Eltern erkundigten sich nach einem Personenzug und erfuhren, dass es 1. und 2. Klasse gab. Ernesto hatte sich schon immer gewünscht, einmal erste Klasse zu fahren, also erfüllten ihm die Eltern diesen Wunsch. Wie jeder Junge in seinem Alter es gemacht hätte, lief auch Ernesto sofort in den Zug. Doch was sah er dort? Es war wie ein richtiger Stall, schmutzig, staubig, das konnte höchstens die dritte Klasse sein. Er lief durch den Waggon und rissdie nächste Tür auf. Da saßen Hunderte von Indios auf dem Boden. Das war die 2. Klasse. Die vermeintliche 3. Klasse war doch die 1. Klasse. Sie fuhren in der Nacht über 5000 Meter bergauf. Es war unwahrscheinlich kalt. Viele Leute vertrugen den Druck nicht, Blut kam aus Nasen und Ohren. So kam die Familie in La Paz an. Ernesto erzählt über die Ankunft:

»Ich könnte viele Seiten füllen, wie stark der Kontrast war, als wir diesen Erdteil betraten. Sauerstoffmangel war noch das wenigste. Der damals herrschende Mangel an Zivilisation, Kultur, Hygiene … war ein schrecklicher Schock. Es genügt zu erzählen, dass man in Bolivien kein Toilettenpapier kannte. Und dass 90% der Bevölkerung Analphabeten waren.«

Nach dieser anstrengenden Zugfahrt liefen die Eltern zuerst hilflos umher. Zum Glück hatte die Familie das Landungsgeld. Bolivien verlangte es von jedem Einreisenden. Es waren pro Person 36 englische Pfund. Für drei Personen machte das 108 englische Pfund. Das war damals ein kleines Vermögen, das der Vater von der Zentralbank in bolivischer Währung abholte und der Familie über die ersten Monate hinweg half.

Der Beruf eines Anwalts ist für eine Emigration wohl sehr schlecht geeignet. Die Umstellung war sehr schwer und die Unkenntnis der Landessprache erschwerte die Situation auch noch. Am Anfang erhielt Südamerika, so auch Bolivien, viel nazistische Propaganda. Durch die anfänglichen Erfolge der Nazis gab es auch hier Anhänger, die Juden verspotteten. Doch der Großteil der Bevölkerung war nett. Sie waren bescheiden, aber gute Menschen. Da die Emigranten lesen und schreiben konnten, sahen die Einheimischen oft zu ihnen auf.

Ernesto war damals gerade 15 Jahre, aus dem Studium herausgerissen und ohne andere Kenntnisse. In der ersten Zeit litten sie häufig unter Entbehrungen und wurden oft nicht richtig satt. Gemeinsam mit anderen jüdischen Emigranten versuchten sie dies und das. So hatte zum Beispiel ein ehemaliger Bankdirektor aus Wien ein Geheimrezept für einen Liptauer. Er hatte das Rezept, Ernestos Vater das Geld. Der Käse wurde in einem schönen Papier ein bisschen verpackt und Herr Allerhand ging auf die Straße um ihn zu verkaufen. Aber davon konnte man nicht wirklich leben. Auch Marmelade, die Frau Allerhand einkochte, wurde auf diese Art verkauft. Das Geld reichte für Essen, aber mehr konnte sich die Familie am Anfang nicht leisten.

Ernesto arbeitete als Elektrikerlehrling bei einem Emigranten. Dazu erzählte er uns: »Er schuldet mir noch heute 13 Wochengehälter, welche genau 25 Dollarcent proWoche betrugen.« Später arbeitete er als Hilfselektriker am Bau. Nach zwei Jahren merkte er, dass man als ungelernter Arbeiter kaum etwas verdienen konnte. Aus diesem Grund suchte er sich einen kaufmännischen Posten. So wurde Ernesto Angestellter in der damals größten Konfektionsfabrik. Er begann von ganz unten und arbeitete sich hinauf. Er wurde später zum Vertrauensmann und Prokuristen des Besitzers. Viel später wurden die beiden sogar persönlich Freunde.

Positiv an Bolivien war für Ernesto, wie er sagt, dass sich alle Emigranten zusammenschlossen und sich gegenseitig halfen. Langsam gelang es ihnen, ein bescheidenes kulturelles Leben aufzubauen. Es gab einen österreichischen Club, in dem sich die Österreicher trafen. Später, als es allen ein wenig besser ging, gab es hier viel gutes Kabarett, Kleinkunst, aber auch Feste mit Tanz. Ernestos Vater war inzwischen ein bekanntes und beliebtes Mitglied der jüdischen Gemeinde, die er mitbegründen half. Er war auch der Vorsitzende des jüdischen Schiedsgerichtes, denn Emigranten konnten Ernestos größtes Hobby war der Sport, den er trotz der Höhe problemlos ausüben konnte. Fußball, Tennis, Leichtathletik … In all diesen Sportarten war er erfolgreich. Die Jugend gründete 1939 den Sportclub »Maccabi«, der der einzige Club für alle jungen Menschen oder Sportler war und der sich einen guten Namen machte. Viele Jahre waren die Mitglieder z.B. in Ping-Pong oder Schach ungeschlagen. Auch die 4 x 100 Meter- Staffel wurde nie besiegt. Ernesto erzählte:

»Als ich damals in Bolivien ankam, wusste ich nicht einmal wie Fußballschuhe aussehen. Aber ich kämpfte mich in die erste Mannschaft unseres jüdischen Sportclubs Maccabi. Es gelang unserer Fußballmannschaft sogar eine Klasse höher aufzusteigen. Und am Ende wurde ich sogar Kapitän der Elf.« Fast noch besser erging es ihm im Tennis. Er gehörte zur 1. Klasse in Bolivien. Als die besten Doppel jedes Clubs gegeneinander spielten, gewann er mit seinem Partner die Meisterschaft. Der bolivianische Landespräsident überreichte ihnen persönlich den Pokal. Auch in der Leichtathletik war Ernesto erfolgreich. Er erzählte darüber:

»Obwohl ich klein von Statur bin, war ich immer schnell auf den Beinen. Unsere Leichtathletikmannschaft war kaum zu schlagen.« Vor allem die 4 x 100 Meter-Staffel war erfolgreich. Ernesto war dabei der Starter. Diese jungen Jahre der Emigration waren für Ernesto teilweise wirklich glücklich. »Es sind wirklich schöne und glückliche Erinnerungen an diese Zeit für mich«, schrieb uns Ernesto in einem seiner vielen Briefe. Auch gesellschaftlich hatte er Erfolg. Er war beliebt, ein guter Tänzer und ein ausgezeichneter Gesellschafter. Sein Vater war der beste Witz-Erzähler der Stadt und hat seinem Sohn etwas davon mitgegeben.

Trotzdem schlug das Schicksal noch mehrmals zu. Am Beginn des Jahres 1950 starb seine Mutter jung an einem Herzleiden, das sie sich vermutlich als Folge der Entbehrungen und Aufregungen zugezogen hatte.

Ernesto heiratete kurz darauf eine jüdische Einwanderin aus Deutschland, mit der er schon länger befreundet war. Er verdiente damals schon gut genug um eine Familie gründen zu können und es reichte sogar für ein Auto. Zwei Jahre später wurde dem Ehepaar eine Tochter geboren, fünf Jahre später kam ein Sohn zur Welt. Anfang 1962 ergriff er die Chance, bei seinem Freund, dessen Vater gestorben war, als Sozius in dessen Importfirma einzutreten. Diese Firma hatte für ganz Bolivien die Alleinvertretung von Tobler- und Suchard-Schokolade aus der Schweiz.

1970 starb Ernestos Vater, der bis dahin im Haus seines Sohnes wohnte. Nur zehn Monate später schlug das Schicksal erneut zu. Der Sohn verunglückte tödlich. Inzwischen maturierte seine Tochter und Ernesto und seine Frau schickten sie nach Buenos Aires zur Weiterbildung. Durch den Tod des Sohnes zog sich seine Frau ein Herzleiden zu, durch das sie die extreme Höhe von La Paz nicht mehr vertrug. Sie mussten La Paz verlassen und zogen zu ihrer Tochter nach Argentinien. Die Tochter hatte inzwischen geheiratet und Frau und Herr Allerhand durften die Geburt von zwei Enkelsöhnen miterleben. Doch das Herzleiden seiner Frau wurde schlimmer und seit fast 20 Jahren ist Ernesto nun Witwer. Er lebt seither, auf eigenes Verlangen hin, bei seiner Tochter. Kontakt zu Österreich hatte er nur zu einem katholischen Onkel, der mit der Schwester seines Vaters verheiratet war und in Österreich lebte. Sie blieben die einzigen Überlebenden der einst großen Familie.

Trotz seines Schicksals blieb Ernesto fröhlich und allem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Er war, wie er selbst sagt, nie eine »traurige Figur« und bezeichnet sich als Gewinner. »Ich bin aus allem als Gewinner hervorgegangen. Ihr kennt das englische Sprichwort ›Everybody loves the winner‹. Zum Glück trifft dies auf meine Person zu. Warum ›Winner?‹ Weil ich sozusagen in La Paz unter Null begann. Und mit viel Arbeit, Fleiß und Optimismus erstieg ich langsam, aber sicher die Treppen des Erfolges. Und dann frage ich mich, ob ich in Wien – ich wollte Anwalt werden und die Kanzlei meines Vaters übernehmen – je wirtschaftlich so weit gekommen wäre.« Er gab auch sein Lebensmotto an uns weiter: »Ich lebe nach dem Motto, das ich euch hier geben will: Glücklich ist, wer nie verlor im Kampf des Lebens den Humor.«

Auf unsere Frage nach einer Entschädigung von österreichischer Seite berichtete er uns, dass erst, als das Land die eigene Schuld zugab, begonnen wurde, die Verfolgten zu entschädigen. Er bekam zuerst 5.000 Schilling für Studien-Entfall und heute bekommt er eine kleine Pension, von der man nur knapp leben könne.


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