Die letzten Zeugen - Das Buc

EHUD JUNGWIRTH


 
 

Diese Geschichte wurde im Projekt "Botschafter" erstellt.

E-Mail von Ehud Jungwirth an die Schülerin Cornelia Krausz

Betreff: "Flüchten oder Bleiben"

Liebe Cornelia!

Ich möchte mich mit diesen zwei Ausdrücken, die Du gebraucht hast, befassen. Erstens die Bedeutung von "Flucht/flüchten". Wann flüchtet man? Möglicherweise wenn man etwas verbrochen hat und schnell das Weite suchen will. Das war natürlich 1938 bei mir nicht der Fall. Eine zweite Möglichkeit: Man ergreift die Flucht vor einer Naturkatastrophe wie z.B. bei einem Erdbeben oder einer Flutwelle - war auch nicht der Fall, ABER eine Katastrophe hatte sich ereignet u.zw. auf dem politischen Niveau - die Nazis hatten in Österreich die Macht ergriffen!! Und für die Nazis hatte ich auch etwas verbrochen, wie alle "Nichtarier" und nicht-Nazis. Es hieß also "rette sich wer kann" und so schnell als möglich, denn sonst  "ging es einem an den Kragen". ABER - so einfach war es nicht. Um die Flucht zu ergreifen, musste man ja ein Ziel haben und um ein solches zu erreichen, musste man sowohl die Mittel als auch die Möglichkeit haben. Man konnte nicht, wie heute, einfach seine Koffer packen, eine Bahnkarte nach z.B. Paris oder London kaufen und losfahren. Zu diesem Zweck musste man erstens eine Ausreiseerlaubnis bekommen, was eine sehr langwierige, komplizierte Angelegenheit war, man musste sich viele Stunden bei diversen Ämtern anstellen bis man die sogenannte "Steuerunbedenklichkeitserklärung" bekam, auf Grund derer und anderer man die Ausreisebewilligung und einen deutschen Reisepass bekam.
Mitnehmen durfte man nur das allernotwendigste, für Alles Andere war die "Devisenkontrolle" zuständig. Mir z.B. wurde die Ausfuhr von 2(!) englischen Pfunden bewilligt. Nehmen wir an, dass jemand nun die nötigen Papiere und Reisepass hatte. Was nun?? Es gab damals kein Land, das Einreise ohne ein Visum erlaubte. Glaub nicht, dass es einfach war ein Einreisevisum z.B. nach England oder insbesondere USA zu erlangen. Die Einreise für Emigranten war fast überallhin gesperrt. Meine Mutter z.B., die lange Jahre als juristische Sekretärin bei einem Rechtsanwalt gearbeitet hatte, konnte nur eine Einreisebewilligung nach England als Köchin bekommen, und auch das nur, da sie von einem englischen Vicar eine Anforderung bekam. Einer Tante von mir, die eine angesehene und beliebte Ärztin in OberSt. Veit war, ging es genau so - als angeforderte Hausgehilfin nach London - und heilfroh Wien den Rücken kehren zu können. Ich selbst konnte mit einer zionistischen Jugendgruppe (15-17 Jahre) im September 1938 mit Bahn über Triest un mit Schiff nach Tel Aviv entkommen. Meine Mutter drei Wochen später nach England, ich habe sie erst 1947 wiedergesehen, mein Vater (meine Eltern waren geschieden) mit seiner Familie erst 1940 nach USA, wo ich ihn erst 1955 wiedergesehen habe.
Weitere Teile meiner Familie nach Frankreich, Neuseeland, Australien, China (Shanghai) und auch USA. Ich hatte 1938 noch zwei Großmütter - ihnen ist es nicht gelungen zu entkommen, sie sind 1941/2 deportiert worden und im Ghetto oder Konzentrationslager umgekommen, genau wissen wir es nicht, ebenso zwei Onkel und diverse weitere Verwandten. Also - bleiben konnte man nicht, wer blieb fand ein elendes Ende.

Es gab 1938 ung. 200.000 jüdische Bürger in Wien. Davon sind etwa ein Drittel im Holocaust umgekommen, zwei Drittel konnten sich retten, viele davon, wie meine Familie, vom Winde - in alle Richtungen - verweht.

Wenn Du noch spezifische Fragen haben solltest, so lass es mich wissen. Ich werde sie, so gut ich kann, beantworten.

Herzliche Grüße,
Ehud (Georg) Jungwirth

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