Die letzten Zeugen - Das Buc

FRED KNOLLER


 
 

Diese Geschichte wurde im Projekt "Nicht zugeordnet" erstellt.

»Wie konnten sich Menschen so rasch ändern?«

Freddie Knoller über seine Ängste, nichtjüdische Österreicher zu treffen.

Es war das dritte Mal, dass ich eingeladen war, meine alte Heimatstadt Wien zu besuchen. In meinen vorangegangenen Besuchen war ich nicht sehr besorgt über Begegnungen mit nichtjüdischen Österreichern, weil beide Reisen vom ›Jewish Welcome Service‹ organisiert worden waren, welches uns mit Sicherheit vor jeglichen antisemitischen Vorkommnissen beschützen würden. Aber diese Reise war anders. Wir wussten, dass die Organisation keine jüdischen Verbindungen hat, und dass wir auf nichtjüdische Österreicher treffen würden, vielleicht sogar unseren Alters. Wie werde ich auf sie reagieren? Werden sie mich an meine traumatischen Erlebnisse während der ›Kristallnacht‹ im November 1938 erinnern, als ich gerade einmal 17 Jahre alt war? Ich war also ein wenig skeptisch. Aber sobald wir am Wiener Flughafen ankamen, wurden wir von wundervollen, jungen Österreichern begrüßt und umarmt, und spürten so ganz deutlich ihre Zuneigung. Jeder von uns hatte seinen oder ihren persönlichen „minder“, unsere war Katja Seidel, die uns augenblicklich unsere Befürchtungen vergessen ließ.

Ich freute mich schon sehr darauf, meinen besten Freund Leo Bretholz zu treffen, der am Projekt mit der amerikanischen Gruppe teilnahm. Leo und ich sind 1947 gemeinsam von Limoges, Frankreich, in die USA gefahren, wo wir später zusammen in Baltimore, Maryland, gewohnt und gearbeitet haben. Leo und Flos Zimmer lag gleich neben unserem. Es war eine echte Freude, mit den beiden die Woche in Wien zu verbringen. Der offizielle Empfang im Ballsaal des Parkhotels Schönbrunn war ein Ereignis, das wir nie vergessen werden. Das Zusammentreffen von rund 200 Holocaust-Überlebenden aus Australien, Amerika, Israel und Südamerika haben diesen Abend zu einem ganz besonderen gemacht.

Ich habe über meine Erfahrungen im Holocaust in zwei Schulen gesprochen: In der Rahlgasse sowie in der Herbststraße. Die Reaktionen waren wirklich unglaublich, die Schüler wollten mehr und mehr Details erfahren und mich gar nicht mehr gehen lassen.

Als ich jenes Grätzel in Wien, in dem ich vor 70 Jahren gelebt hatte, durchstreifte, erinnerte ich mich an meine Gefühle, als ich sechs Jahre zuvor unsere frühere Wohnung in der Unteren Augartenstraße 32 besucht hatte. Das ›Jewish Welcome Service‹ hatte den Besuch ausgemacht, ich läutete: Würde ein alter Nazi öffnen? Wie würde ich reagieren? Doch dann öffnete eine junge, schöne Frau, all meine Ängste verschwanden, sie umarmte uns und lud uns zu Tee und Sacher-Torte ein. In der Wohnung hatte sich sehr viel verändert. All die schönen Kachelöfen gab es nicht mehr, die Küche war viel kleiner, weil dort nun ein Bad eingerichtet war. Und sogar eine Toilette gab es nun, wir mussten uns diese noch am Gang mit drei weiteren Parteien teilen. Ich konnte mir nun gar nicht mehr vorstellen, wie unsere sechsköpfige Familie in dieser kleinen Wohnung leben hatte können. Ich besuchte auch meine alte Schule, das Sperlgymnasium. Ich werde niemals vergessen, wie sich die Einstellung meiner christlichen Freunde von einem Tag zum anderen geändert hatte, als die Nazis im März 1938 in Österreich einmarschierten. Wir jüdischen Schüler mussten ab sofort in der letzten Reihe sitzen und keiner sprach mehr mit uns, außer wenn sie uns ›Saujud‹ schimpften.

Ich ging auch an den Kai und in den Augarten, wo ich damals vor so vielen Jahren mit meinen Freunden Fußball gespielt hatte. Ich erinnere mich noch sehr genau an einen meiner besten – christlichen – Freunde, Karl Swoboda, der mich nach dem Anschluss einfach ignorierte, als ich ihn auf der Straße traf und grüßte. Er trug die Uniform der HJ, der Hitler-Jugend. Wie, so frage ich mich bis heute, konnten sich die Menschen so rasch ändern?

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