Die letzten Zeugen - Das Buc

Dieser Brief stieg im Mai 2003 in den Himmel

Hallo Frau Professor! Hier ist mein Brief an meinen Engel! Liebe grüße Alexia Kulterer Liebe Anna, Mein Name ist Alexia Kulterer und ich schreibe dir, weil ich möchte, dass du nicht in Vergessenheit geraten wirst. Ich habe viel über dich, deine Familie und dein Leben recherchiert. Leider habe ich von dir selber nicht so viele Daten gefunden. Ich weiß, dass du am 30.06.1889 geboren wurdest. Das sind genau 100 Jahre vor meinem Geburtstag. Bis zu dem Tag, als du deportiert würdest wohntest du in Wien, Schiffgasse 2. Man vermutet das du eine Schwester namens Taube hattest, die auch dort wohnte und mit dem gleichen Zug wie du nach Minsk in Weißrussland, einem der vielen Deportationsorten gebracht wurdest. Du warst ein unschuldiges Opfer des Nationalsozialismus, leider. Viele Fragen schwirren nun in meinem Kopf herum. Ob du etwa Kinder hattest und dein Wohnort schön und gemütlich war!? Wie war dein Leben wohl? Musstest du viel leiden? Viele, viele Fragen würde ich dir gerne stellen, doch wenn ich darüber nachdenke lässt es mich traurig werden. Du kannst mir niemals antworten! Mit genau 52 Jahren musstest du am Wiener Aspangbahnhof in einen Zug, vollgefüllt mit 1000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern steigen und stundenlang warten auf das Geschehen danach. Ich bin mir sicher, dass dich das Ungewissen, das nicht Wissen was wohl passieren würde, sehr quälte. Zu dieser Zeit, zwischen Mai und Oktober 1942, trafen 16 Züge mit mehr als 15.000 Menschen aus Wien, Königsberg, Theresienstadt und Köln in Minsk ein. Man wollte eine möglichst „kurzfristige und reibungslose“ Vernichtung dieser Menschen gewährleisten und so hatte man umfangreiche organisatorische Vorbereitungen getroffen. Als Exekutionsstätte wurde ein Kiefernwäldchen mit einigen Kilometern Entfernung vom Gut Maly Trostinec, und wiederum 15 Kilometer südöstlich von Minsk, einer ehemaligen Kolchose die im April 1942 von der Dienststelle des Kds in eigener Bewirtschaftung übernommen worden war, ausgewählt. Als erste Maßnahme wurden dann ausreichend große Gruben ausgehoben. Die Größe der Gruben reichte bis zu drei Meter Tiefe und 50 Meter Länge. Nach der Ankunft der Züge auf dem Güterbahnhof in Minsk sorgte eine Gruppe der Dienststelle des Kds für die Ausladung der neu eingetroffenen Menschen. Sie wurden zu einer Art Sammelplatz getrieben, wo man ihnen alle Geld- und Wertsachen abnahm. Von dort aus wurden die vielen Menschen zu den nahen Gruben gebracht. Die Deportierten der ersten Transporte wurden an den Gruben erschossen. Dazu waren an den einzelnen Gruben bis zu 20 Schützen. Etwa ab Anfang Juni 1942 wurden auch „Gaswagen“ eingesetzt. Im Falle des Einsatzes der „Gaswagen“ wurden die Opfer bereits am Gelände des Güterbahnhofes in die Wagen gepfercht und zu dem Gruben gebracht. Dort wurden dann die Abgasschläuche angeschlossen und das Gas ins Innere der Wagen geleitet. Jedoch wurden diese „Gaswagen“ nicht oft eingesetzt. Bedingt wegen technische Probleme und häufigen Defekten, wie auch wegen der erforderlichen arbeitsaufwendigen Reinigung nach jedem Mordeinsatz. Es sind 17 der deportierten nach Maly Trostinec bekannt, was für mich eine erschreckende Zahl ist. Wie kann man nur so viele unschuldige Menschen umbringen? Ich muss oft daran denken, warum das Leben damals für all diese Menschen so schrecklich war. Jeder hat Recht auf ein schönes Leben. Leider durften das viele Menschen nicht haben. Ich bin froh, nicht in dieser Zeit gelebt zu haben. Wir haben so ein schönes Leben und viele sind trotzdem nicht zufrieden damit. Sie sollten über die Zeit im Nationalsozialismus nachdenken. Ich bin mir sicher, dass sie dann die Welt aus einem anderen Auge sehen würden. Schrecklich ist auch die Tatsache, dass die Menschen damals alle mit Nummern gekennzeichnet wurden. Stellt euch vor, zu uns wurde jemand sagen: „Nummer 5 und 14, ihr werdet heute in Deutsch geprüft!“ Dabei würde sich wahrscheinlich keiner wohl fühlen. Anna, ich muss oft an dich denken. Schade, dass ich nicht mehr über dich weiß. Liebend gerne und mit Freude hätte ich deine Antworten auf meine Fragen gelesen oder gehört. Meine Uroma hat mir auch schon oft etwas über die Zeit, als sie noch jung war erzählt. Es ist spannend, doch wie sich alles in 70 Jahren verändert hat!?!? Auch jetzt hat wieder der Krieg angefangen. In einer Zeit, in der man nicht einmal mehr an den Krieg denken sollte. Ich dachte, dass Menschen sich ins bessere entwickelt haben.....Leider sieht es nicht so danach aus. Vielleicht kommen meine Gedanken irgendwann bei dir an. Liebe Grüße, Deine Alexia Kulterer -- +++ GMX - Mail, Messaging & more http://www.gmx.net +++ Bitte lächeln! Fotogalerie online mit GMX ohne eigene Homepage! Download this as a file