HILDE FUCHS(früher Figer)geb. 1925-03-15 lebt heute in Israel |
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Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.
Hilde und Catriel Fuchs sind beide 1925 in Wien geboren. Catriel musste mit 13 Jahren Zwangsarbeit in einer Ziegelfabrik leisten. 1940 gelang ihm die Flucht nach Palästina. Hilde gelang unter schwierigen Bedingungen schließlich auch die Ausreise nach Israel. Schülerinnen der Hauptschule Waidhofen berichten.
"Wir verloren unsere Familien, unsere Kindheit, unsere Heimat"
Auf unseren ersten Brief an das Ehepaar Fuchs in Israel vom 31. März 2004 erhielten wir am 21. April als Antwort von Hilde und Catriel Fuchs eine Ansichtskarte aus Haifa. Sie schrieben:
Liebe Yvonne, Tanja, Ines, Stephanie, wir – das heißt meine Frau und ich – haben uns über euren lieben Brief sehr gefreut. Er war seit dem 31. März zwanzig Tage unterwegs und ist gestern bei uns eingetroffen. Ich, Karl Catriel Fuchs, beantworte ihn zuerst, da meine Frau eine sehr schwere Grippe hat, zittrig und mit hohem Fieber. Sie wird euch bald selbst ausführlich schreiben. Ob wir beide euch eine Lebensweisheit mitteilen können, weiß ich nicht, jedoch Lebenserfahrungen, Erinnerungen bestimmt. Wir planen einen längeren Österreichbesuch im Frühherbst, vielleicht gelingt uns ein Treffen, was uns sehr freuen würde.
Bitte sendet unsere herzlichen Grüße zu den Sternen, es bewegt uns sehr, dass ihr Interesse an unserer Vergangenheit – die die auch aller Österreicher ist – habt.
Eure Hilde und Euer Catriel Fuchs
Liebe Mädel, Haifa, 23. Mai 2004
vor allem will ich mich für die so späte Antwort auf euren lieben Brief (mit so liebem Foto) entschuldigen. Ich hatte eine schwere Grippe mit Komplikationen und es dauerte sehr lange, bis ich mich wieder einigermaßen erholt hatte. Ich hoffe sehr, dass ich euch durch meine späte Antwort nichts verdorben habe. Wir planen diesen Sommer nach Wien zu kommen und haben bereits für den 16. September bis 16. Oktober gebucht. Hoffentlich kommt nichts dazwischen, das uns diesen Plan verdirbt. Sollte es für euch noch von Interesse sein, so würden wir euch gern kennen lernen und sind gerne bereit nach Waidhofen zu kommen. Meine Personalien sind (ganz kurz): geboren am 15. März 1925 in Wien, geflüchtet im November 1939 mit einer Kinder- und Jugendgruppe und angekommen im April 1941 im damaligen Palästina.
Ich hoffe, dass wir uns doch kennen lernen können und bis dahin liebe Grüße an euch alle und eure Geschichtslehrerin.
Herzlichst,
Hilde Fuchs
Haifa, 16. Juni 2004
Liebe Mädel,
wie bereits erwähnt haben sich unsere Schreiben gekreuzt und so – eurem Wunsch entsprechend – erzähle ich euch in Kürze aus meiner Lebensgeschichte.
Ich wurde am 15. März 1925 in Wien als Tochter von Josef und Klara Figer geboren, wuchs als Einzelkind in einer gutbürgerlichen, assimilierten Familie auf, umgeben von liebenden Tanten, Onkeln und Großeltern. Ich hatte eine schöne, unbeschwerte Kindheit. Wir wohnten im 2. Wiener Gemeindebezirk in einer Mietwohnung; ich spielte mit den christlichen Nachbarskindern und ging in deren Wohnung ein und aus, nahm an ihren Festen (Ostern, Weihnachten ...) fast als Familienmitglied teil und ging auch des Öfteren mit unserer Hausgehilfin, die ich heiß liebte und die mir wie eine Mutter war, in die Kirche.
Meine Eltern waren in ihrer Delikatessenhandlung sehr beschäftigt, doch ich wuchs gut behütet, sehr geliebt und verwöhnt auf. Mit sechs Jahren besuchte ich die Volksschule am Sterneckplatz und war auch dort fast ausschließlich mit christlichen Mädchen befreundet. Mit einer davon bin ich heute noch in Verbindung. Ich war eine Vorzugsschülerin, meine Zeugnisse bestanden fast nur aus Einsern (bis auf Turnen ...) Damals war schon mein sehnlichster Wunsch, Ärztin zu werden. Daraus wurde natürlich nichts.
Nach vier Jahren Volksschule ging ich ins Novara-Gymnasium für Mädchen. Dort traf ich erstmalig, obwohl nicht persönlich, auf Antisemitismus. Wir hatten eine Turnlehrerin, die – wie sich dann herausstellte – Mitglied der NSDAP war und jüdische Schülerinnen regelmäßig beschimpfte. Da ich vom Aussehen her weder „jüdisch“ aussah, noch meine Vor- und Familiennamen jüdisch klangen (Mathilde Figer), entging ich den Beleidigungen und Beschimpfungen.
Am 12. März 1938 kam es zum Anschluss. Vorher noch gab es eine Zeitlang Demonstrationen der Schülerschaft, fast ausschließlich für Bundeskanzler Dr. Kurt Schuschnigg. Wir trugen stolz die 3-Pfeile Abzeichen, hielten Ansprachen und auch ich nahm wie die meisten Schülerinnen als begeisterte Anhängerin der Sozialdemokratischen Partei für mein geliebtes Österreich teil. Viel verstand ich allerdings nicht von der Politik, ich wusste nur, dass hier etwas Verhängnisvolles auf uns alle zukam. Wie entsetzlich es für die jüdischen Bürger werden sollte, konnte ich natürlich nicht ahnen.
Zuhause waren sie nicht besorgt, mein Vater beruhigte meine Mutter damit, dass er als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg gedient hatte und somit nichts zu befürchten hätte. Aber sehr bald begannen die verschiedenen Maßnahmen, noch „harmlos“ im Vergleich zu dem, was kommen würde. Die jüdischen SchülerInnen wurden aus den Schulen ausgeschlossen, unser Geschäft wurde „zwangsarisiert“, das heißt einfach enteignet. Wir mussten die Wohnung verlassen. Ich, die ich nie etwas mit der zionistischen Bewegung, der historischen Rückkehr nach Palästina zu tun hatte, musste jetzt auf den Straßen das Gejohle und die Rufe: „Saujuden, schleichts euch nach Palästina!“ hören.
Meine Mutter trat einem zionistischen Klub bei, mein Vater aber wollte davon nichts wissen. Und dann ging es Schlag auf Schlag: Misshandlungen, Enteignungen, Aussperrungen usw. Eine Welt brach zusammen. Meiner Mutter wurde geraten, nach Warschau zu fahren, da angeblich „irrtümlicherweise“ das Zertifikat, das Einreisedokument nach Palästina, welches sie erworben hatte, dorthin geschickt wurde. Das tat sie auch, konnte aber nicht mehr nach Wien zurückkehren und fand dort ihren Tod. In ihrem letzten Brief an mich schrieb sie, dass sie mit anderen in ein Ghetto musste.
Und dann, am 9. November, kam die Kristallnacht, über die ihr sicher gelernt habt. Mein Vater wurde, wie tausende andere auch, verhaftet und in das KZ Dachau verschickt. Es gelang mir, nach fast dreieinhalb Jahren, ihn zu befreien – als geschundenen, gebrochenen Mann. Er musste binnen 48 Stunden das Großdeutsche Reich verlassen, es gelang ihm, nach Frankreich zu fliehen, wo er endgültig von den Nazis eingeholt, ins KZ Ausschwitz verfrachtet und dort ermordet wurde.
Ich blieb mutterseelenallein in Wien, in einer von der Gestapo total verwüsteten Wohnung zurück, war 14 Jahre alt und meine gesamte Familie war zerstört und vertrieben. Die verschiedenen zionistischen Bewegungen begannen langsam die verstörten Kinder und Jugendlichen einzusammeln. Die Gestapo erlaubte damals noch die Errichtung einer Art Schule und Hort in der Marc-Aurel-Straße, nur wenige Minuten vom Gestapo-Hauptquartier entfernt. Dort versuchten jüdische Lehrer und Professoren, aus ihren früheren Posten fristlos entlassen, uns in dieser „Ersatzschule“ etwas Allgemeinwissen sowie Informationen über Zionismus, Landwirtschaft etc. zu vermitteln. Des Öfteren hatten wir „hohen Besuch“ von Gestapo und SA sowie von der Hetzzeitung „Der Stürmer“, welche sich auf Verleumdungen, verunstellte Fotos von Juden, die wie „typische“ Hebräer aussahen, spezialisierte. Ich wurde immer aus der Klasse geschickt, da meine blonden Zöpfe, blauen Augen und „germanischarischen“ Gesichtszüge nicht in ihr Konzept des jüdischen „Untermenschen“ passten. In meiner kindlichen Naivität war ich darüber betrübt, denn ich wollte doch auch in die Zeitung kommen!
Eines Tages im November 1939 wurde meine Jugendgruppe zur plötzlichen Abreise aufgerufen. Man sagte uns, dass wir per Schiff nach Palästina fahren würden. Eines Abends fanden wir uns am Ostbahnhof ein, bestiegen den Zug – und da erfasste mich plötzlich die Panik. Ich versuchte aus dem fahrenden Zug zu springen, wurde aber zurückgerissen und weinend und schreiend in ein Abteil gebracht. Nun, wir kamen in Bratislava an und wurden vorerst in einer aufgelassenen Munitionsfabrik interniert, von bewaffneten Mitgliedern der faschistischen Hlinka-Garde bewacht. Die Situation war sehr angespannt, niemand konnte uns die Ursache der Verzögerung der Weiterfahrt erklären. Allein schon wegen des bevorstehenden, gefürchteten Zufrierens der Donau standen wir unter Zeitdruck, der täglich dringender wurde. Zudem stellten die slowakischen Behörden ein Ultimatum und drohten mit Abschiebung der Gruppe an die deutsche Grenze, was mit Sicherheit unseren Abtransport in ein KZ zur Folge gehabt hätte.
Endlich nach zehn Tagen brachte man uns in den Hafen und wir bestiegen den Donaudampfer „Uranus“. Die Raumnot und das Gedränge waren enorm, und gleich nach dem ersten „Mittagessen“ setzten bei uns allen schwere Durchfälle ein. Wir waren überzeugt, dass uns die Mannschaft absichtlich etwas in das Essen getan hatte. Es war fürchterlich, wir alle litten an Durchfall, Erbrechen, Fieber und Magenkrämpfen. Nach kurzer Fahrt wurde das Schiff an der ungarischen Grenze angehalten und in Richtung Heimat zurückgeschickt, fuhr aber schließlich nur bis Bratislava, wo es vor Anker ging. Es herrschte eine schwere Stimmung, bis dann nach einiger Zeit doch die Erlaubnis zur Weiterfahrt kam. An der jugoslawischen Grenze wurde uns jedoch wieder die Durchfahrt verweigert und so kamen wir wieder in Bratislava an, wo wir im Winterhafen ankerten. Die Stimmung an Bord war entsetzlich, wir waren verzweifelt und ich weinte mich jeden Abend vor Sehnsucht nach zu Hause in den Schlaf.
Schließlich war unsere Abfahrt für den 13. Dezember geplant. Da aber weigerte sich die DDSG die Weiterfahrt mit der „Uranus“ zu ermöglichen. So wurden wir nachlangem Hin und Her in jugoslawischen Gewässern mitten auf der Donau auf drei jugoslawische Schiffe umgeschifft. Weiter ging dann die Reise, endete jedoch bald wieder im Hafen des Dreiländerecks Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien.
Wir existierten unter den härtesten Bedingungen, schöpften durch die Luken eisiges Donauwasser, um uns zu waschen, Zähne zu putzen usw. Wir litten seelisch und körperlich.
Am 29. Dezember teilte man uns mit, dass wir wiederum zurückfahren müssten. Da der Eisgang begann, erhielten wir aber dann doch die Erlaubnis flussaufwärts im Winterhafen von Kladovo, einem kleinen Lehmhüttendorf, zu überwintern. Wir saßen fest! Wir, das war ein Transport von etwa 1000 Menschen, verteilt auf drei kleine Donauschiffe, unter unerträglichen Bedingungen, in einem außergewöhnlich harten Winter. Wir froren, hungerten und zweifelten, ob wir jemals von dort wegkommen würden.
Ich fühlte mich total verlassen, und in meiner Verzweiflung wollte ich ein Ende machen und in die Donau springen, konnte jedoch zurückgehalten werden. Ich will hier nicht auf Einzelheiten eingehen, der Bericht würde sonst viel zu lang werden.
Ende März 1940 wurden die Schiffe in den Sommerhafen, direkt am Ort, verlegt. Wir erhielten Passagierscheine zum Landgang. Unsere drei Schiffe mussten im Mai geräumt werden, weshalb wir vorübergehend in Barackenlager untergebracht wurden. Uns Jugendlichen wurden Zelte zugewiesen. Dort blieben wir bis Ende Mai und wurden dann auf einen umgebauten Kohlenschlepper umgesiedelt. Wir mussten in Schichten auf den Pritschen schlafen; eine Nacht saß ein Teil auf den Bänken, der andere Teil lag auf dem eisig kalten Boden, zu zweit auf einer ganz dünnen Decke, zugedeckt mit einer ebenso dünnen Decke; die nächste Nacht verlief dann umgekehrt. Wir froren und hungerten jämmerlich, versuchten aber trotz allem ein „normales“ Leben zu arrangieren. Unsere Jugendführer versuchten dieser schwierigen Aufgabe so gut wie möglich gerecht zu werden.
Inzwischen hatte sich der Transport auf 1200 Personen vergrößert, und im September 1940 wurden wir in das Städtchen Sabac verfrachtet. Nun begann die Zeit der Gerüchte, Hoffnungen und Enttäuschungen: ein ständiges Wechselbad zwischen Hoffnung auf baldige Weiterfahrt und darauffolgende Enttäuschung. So vergingen die Monate, bis endlich – nur wenige Wochen vor dem deutschen Überfall auf Jugoslawien – nur Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren im Februar 1941 die ersehnten Einreisezertifikate nach dem damaligen Palästina bekamen. Betroffen waren etwa 120 Kinder und etliche ältere Personen. Ende März war unsere Odysee zu Ende. Für die ca. 1000 Zurückgebliebenen war sie auch zu Ende, allerdings endgültig, denn sie alle wurden von deutschen Kommandos ermordet.
Wir gelangten mit kurzen Unterbrechungen auf dem Landweg mit der Bahn über die Türkei und Syrien nach Haifa (Palästina), wo wir eine Zeitlang von den britischen Behörden in einem Auffanglager interniert wurden. Unser Leben war gerettet!
Da ich völlig allein war, kam ich in einen Kibbutz und lernte dort meinen Mann (auch Wiener) kennen. Wir heirateten im März 1944, als er bereits in Uniform der Royal Navy (der britischen Kriegsmarine) war und bald außer Landes geschickt wurde.
Ich verließ den Kibbutz und suchte Arbeit und Unterkunft in der Stadt Haifa, einer Hafenstadt. Ich hatte aber nichts gelernt, denn als Jüdin musste ich die Schule in Wien vorzeitig verlassen. Ich ging als Haushaltshilfe und Kindermädchen arbeiten, aber die Zeiten waren schlecht, und so blieb ich oft ohne Arbeit, hatte keine Unterkunft und verbrachte die Nächte in Hauseingängen, auf den Stufen sitzend, bei jedem Geräusch aufschreckend. Ich hungerte und fror wieder, erkrankte schwer und wurde letztendlich von einer Hilfsorganisation aufgelesen und bewusstlos zu einer Familie gebracht, die mich aufnahm und bei der ich später den Haushalt und die beiden Kinder betreute. Dort fand ich wieder so etwas wie eine Familie und verlor langsam meine Traurigkeit und den nagenden Schmerz meiner Entwurzelung.
Im Jahre 1946 rüstete mein Mann ab und wurde ins zivile Leben entlassen. Wir suchten uns eine kleine Unterkunft, um unser gemeinsames Leben zu beginnen. Da wir beide absolut mittellos waren, waren wir froh, als wir in eine winzige aufgelassene Waschküche,die in einem Hinterhof stand, einziehen konnten, zwar ohne Strom und ohne Wasser, welches wir uns in Kübeln holten.
Nach der Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1947 brach der Befreiungskrieg aus. Mein Mann wurde sofort mobilisiert, ich war gerade mit unserem Sohn schwanger. Wir fanden eine etwas schönere, wenn auch winzige Dachwohnung. Der Krieg war 1950 zu Ende, wir hatten einen Staat – Israel, und wir begannen auf ein besseres Leben zu hoffen.
1952 wurde unsere Tochter geboren, und wir schlugen uns mit allerlei Arbeiten und Jobs durch. Es folgten – wie bekannt – weitere Kriege, die Illusionen verflogen. Mein Mann fand einen verantwortungsvollen Posten, die Kinder wuchsen heran und wurden Erwachsene, und wir wurden alt und älter.
Endlich konnten wir wieder nach Österreich bzw. Wien fahren, und unsere Liebe und Heimatgefühle zu Land und Stadt erwachten wieder in uns. Neue Nachfolgegenerationen sind nun da, die wir nicht für die fürchterlichen Verbrechen ihrer Väter und Großväter pauschal verantwortlich machen. Wir haben unzählige gute Freunde gewonnen und hoffen noch lange und öfter nach Österreich kommen zu können.
Wir freuen uns über euer Interesse an unserem Schicksal und darauf, dass wir euch hoffentlich bald näher kennen lernen können.
Meine Lebensweisheit: Gegen Schicksal kann man nur schwer kämpfen.
Liebe Grüße an euch alle, ich freue mich euch kennen zu lernen
herzlichst
Hilde Fuchs