Die letzten Zeugen - Das Buc

ALICIA ANNA LATZER


 
 

ALICIA ANNA
LATZER

geb. 1928-06-11
lebt heute in den USA


Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.

Alice Latzer wurde am 11.6.1928 in Güssing geboren. Ihre Familie konnte 1938 mit gefälschten Papieren nach Argentinien ausreisen. 63 Verwandte, denen die Flucht nicht gelang, wurden in verschiedenen KZ ermordet. Alice Latzer lebt heute in New York, wo sie nach wie vor als Reiseleiterin tätig ist.

Ein Nazi beschaffte Tickets und gefälschte Papiere für die Flucht

Schülerinnen aus der HS Jennersdorf trafen die Überlebende Alice Latzer und recherchierten ihre Lebensgeschichte.

Alice Anna Latzer wurde am 11.Juni 1928 in Güssing geboren. Ihr Vater Aladar Latzer und ihre Mutter Elsa Latzer ermöglichten ihr bis zu ihrem 10.Lebensjahr eine schöne Kindheit in Güssing. In ihren ersten zehn Lebensjahren spürte sie auch noch keinen Antisemitismus. Nachdem Hitler in Österreich einmarschiert war, bekam Alice neue Lehrer, die dachten, sie wäre eine "Arierin". Leider sah sich ein alter Lehrer "gezwungen", sie den Nationalsozialisten zu melden. Daraufhin bekam ihr Vater den Rat, sie von der Schule zu nehmen. Ihre Freunde und die ihrer Eltern hielten trotz des Verbotes Kontakt zu ihnen und beschützten sie.

Trotzdem mussten sie nach einiger Zeit in der Nacht nach Wien fliehen, wo Alice mit ihren Eltern und ihrer Schwester bei der Schwester ihres Vaters aufgenommen wurden. Es war ihnen zu gefährlich in Güssing geworden, und es war schrecklich für sie gewesen, sehen zu müssen, wie schlecht es manchen Juden in ihrer Umgebung bereits ergangen war. In Wien tätigte Alice die Einkäufe für die Familie, da sie mit ihren blonden Zöpfen wie ein deutsches Mädchen aussah. Nur ihr Großvater verließ außer ihr noch das Haus, denn er ging täglich in den Park. Einmal allerdings kam er bereits nach fünf Minuten zurück und berichtete, dass alle Bänke die Aufschrift „FÜR JUDEN VERBOTEN!“ trugen. Spätestens jetzt wollte die Familie nach Argentinien auswandern. Dabei half ihnen ein Nationalsozialist, den ihre Mutter früher, als es ihm schlecht gegangen war, oft zu einer Jause eingeladen hatte. Dieser beschaffte ihnen alle nötigen Tickets und gefälschte Papiere.

Am 10.Oktober 1938 kamen sie in Buenos Aires an. Hier wurde ihr Name auf die spanische Form Alicia geändert. Es war gut, dass ihnen die Flucht gelungen war, denn alle 63 Verwandten, die nicht flüchteten, starben später in einem Konzentrationslager. Ihr Vater bekam sogar eine Arbeit in Buenos Aires, doch die war zu schwer für ihn. Er zog sich einen Leistenbruch zu, von dem er sich nie erholte und an dem er schließlich mit 87 Jahren starb. Da auch Alicias Mutter arbeitete, mussten ihre Schwester und sie selbst in ein Waisenhaus, in dem es ihnen sehr schlecht ging, weil alle Betreuerinnen Sadisten waren. Dort wurde sie mit zehn Jahren zum ersten Mal krank. Außerdem durften sie nur, wenn die „Damen der Gesellschaft“ kamen, ins Freie. Nach einigen Monaten konnten ihre Eltern Alicias Schwester wieder zu sich nehmen, vorher war ihnen dies verweigert geworden. Alicia selbst war zu schwach und musste noch einen Monat länger bleiben.

Nach der Zeit im Waisenhaus stellte sich die Frage, wohin Alicia und ihre Schwester sollten, während ihre Eltern arbeiteten, da in dem Haus, in dem sie wohnten, bereits alle Mädchen mit zwölf Jahren Prostituierte waren. Nun kamen sie nach der Schule täglich in ein Heim, das sie aber am Ende des Tages wieder verlassen konnten. Dort begann Alicia eigenständig Geld zu verdienen, indem sie den jüngeren Kindern Unterricht gab. In der Abendschule lernte sie Englisch. Nach einiger Zeit begann sie, in Boutiquen zu arbeiten. Mit 25 Jahren ging sie für ein Jahr in die USA. Als sie ihren Eltern erklärte, dass sie in den USA bleiben wollte, drohte ihr die Mutter mit Selbstmord. Deshalb kam sie wieder zurück. Nach acht Jahren ging sie dann endgültig nach New York, und ihre Mutter beging nicht Selbstmord.

Für Alicia war es besonders schwer, sich wieder an ihre schreckliche Kindheit zu erinnern und uns ihre Erlebnisse mitzuteilen. Sie hatte das nämlich alles bis vor wenigen Jahren immer verdrängt. Erst vor vier Jahren kam sie zum ersten Mal wieder nach Güssing und besuchte ihr altes Haus. Sie wird auch heuer im Sommer wieder kommen und sich mit uns treffen. So ist sie eine Frau, die wirklich durch die Schule des Lebens gegangen ist.

Am 30.August 2004 konnten wir uns endlich mit Frau Latzer in Jennersdorf treffen, dabei erfuhren wir viel Neues: Als Frau Latzer mit ihrer Familie ihr Haus in Güssing verließ, saß sie, damals 10-jährig, vor ihrem Haus und musste mitansehen, wie Fremde, aber auch Nachbarn und Bekannte das Haus plünderten. Das war für sie besonders schrecklich. Deshalb fühlte sie sich bei ihrem ersten Besuch in Güssing nach dem Krieg auch nicht sonderlich wohl. Erst vor kurzem bekam sie einige Gemälde, die in ihrem Familienbesitz waren, vom steirischen Landesmuseum Joanneum zurück. Die Gemälde bedeuteten ihr nicht viel, doch es ist ihr wichtig, mindestens einen kleinen Teil ihres ursprünglichen Besitzes wieder zurückzubekommen und so ein klein wenig Wiedergutmachung zu erfahren.

Natürlich wird eine Goodwilltour nicht ihre schrecklichen Wunden heilen können. Frau Latzer hat aber erstaunlichen Lebensmut. Sie selbst sagt: "Ich versuchte mich immer auf die Zukunft zu konzentrieren, nicht auf die Vergangenheit." Darüberhinaus zeigte sie uns auch Fotos und Dokumente aus ihrer Kindheit, die wahrlich schon in ihrem zehnten Lebensjahr endete. Damals wurde sie, als die Nazis kamen, im Schulhof vor allen Mitschülern verspottet. "Ab diesem Moment", sagt sie, "war ich erwachsen."

Wir haben uns sehr gefreut, dass uns Frau Latzer mit ihrer Kusine besuchte.

Maria-Luise Hendler, Silke Reichmann, Stefanie Kropf, Katrin Wagner, Anna Brückler, HS Jennersdorf, 2005


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